Kompensation von Verlustängsten oder Kulturgutbewahrung
Warum werden immerzu neue Museen gebaut? Gibt es nicht schon genug von ihnen? Offenbar soll möglichst viel von dem aufbewahrt werden, was in der Vergangenheit an Artefakten entstanden ist und künftig entstehen wird? Dabei handelt es sich nicht nur um Kunstwerke im strengen Sinne. Museen gibt es ebenso für technische Geräte, Lippenstifte, Briefmarken, Kuckucksuhren und dergleichen, daneben für historische Epochen, ganze Kulturen, subkulturelle Lebensweisen sowie Sportaktivitäten, Hobbys und Seltsames aller Art. Kurz, Künstlerisches, Profanes und Ideelles soll durch Museen vor dem Vergessen geschützt werden. Dahinter verbirgt sich offenbar eine Angst vor Verlusten.
Vielleicht ist es ja richtig, dass sich die Gegenwart nur dann sinnvoll begreifen lässt, wenn ihre Vorgeschichte bekannt ist und erinnerungsfähig bleibt. Das Heutige ist schließlich potentiell schon morgen das in Vergessenheit Geratene von gestern. Und je schneller sich das Rad dreht, umso aufwändiger die Konservierung. Kürzlich hat der Soziologe Andreas Reckwitz mit dem zeitdiagnostischen Essay Verlust das Thema aufgenommen und damit ein zentrales Grundproblem der Moderne beschrieben. Dieses hängt unmittelbar mit dem zweifelhaft gewordenen Fortschrittsversprechen der letzten Jahrhunderte zusammen.
Bis zum Ausgang des Mittelalters bestand die Lebenserfahrung der meisten Menschen in der zyklischen Wiederholung des Immergleichen. Tag für Tag, Jahr für Jahr geschahen die alltäglichen Dinge in nahezu unveränderter Weise. Hungersnöte, Seuchen und kriegerische Akte bildeten zwar existenzbedrohende Einschnitte, aber unabhängig davon war ein Fortschritt in Richtung eines anderen, besseren Lebens nicht zu erkennen und wurde auch gar nicht erwartet. Jeder Gedanke an einen Verlust des Bestehenden war deshalb, bis auf die grundsätzlichen Existenzbedrohungen, obsolet. Es galt: Der Alltag wird morgen so sein, wie er auch gestern schon war. Die einzige Hoffnung zur Kompensation von Ängsten und Nöten wurde vom Religiösen und dessen Vision eines von Not befreiten Jenseits genährt, das bei kirchenmoralgerechter Lebensführung erreichbar sein würde. Der vormoderne Mensch des europäischen Kulturkreises lebte in einem mehr oder weniger statischen Sozialbiotop. Museen als Orte des Erinnerns und der Bewahrenskultur waren überflüssig.
Mit Renaissance, Aufklärung und Industrialisierung änderte sich die Lage grundlegend. Der neue Gedanke eines multiperspektivischen Raumes ohne kirchlichen Alleindeutungsanspruch, dazu die politische Zurückweisung altfeudaler Machtansprüche und nicht zuletzt die technisch begründeten Versprechen zur Beherrschung der bislang als bedrohlich empfundenen Umwelt eröffneten einen zuvor undenkbaren Kontingenzraum. Die aktive Gestaltung von Zukunft wurde erstmals eine denkbare Option, die Verbesserung der Welt das dazu passende Versprechen. Der Begriff Fortschritt fand überhaupt erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Eingang in den Sprachgebrauch. Es war die Geburt eines entsprechenden Narrativs.
Vor allem die Industrialisierung im 19. Jahrhundert bildete einen praktisch erfahrbaren Kipppunkt vom Alten zum Neuen. Bald boomten die Schwerindustrie und die Eisenbahn. Für den Alltag ebenso bedeutsam war etwa das elektrische Licht, das nach der Jahrhundertwende die Wohnungen der Städte erreichte. Zunächst nur für wenige, aber dies genügte, um die Erwartungen aller zu nähren. Hinzu kamen weitere technische Errungenschaften. Es war nur noch ein kurzer Weg zum Radio, dem Flugzeug, dem elektrischem Rasierer und dem Staubsauger. Fortschritt, Fortschritt, Fortschritt. Ein allgemeiner kollektiver Wohlstand würde, so die Überzeugung, zum besseren Leben aller Klassen und Schichten beitragen. Das Thema Verlust blieb, sowohl kollektiv wie individuell, eher im Hintergrund. Das Neue versprach nun einmal Besseres als das Alte. Und dennoch war das Ganze nicht ohne Verdrängungen zu haben. Äußere Bedrohungen gab es schließlich weiterhin und das Leben blieb endlich. Gleichwohl verbreitete sich das Bild eines stetig wachsenden Wohlstands und Glücks.
Spätestens seit der Jahrtausendwende hat das Fortschrittsnarrativ an Überzeugungskraft verloren. Grenzen des Wachstums waren deutlich geworden, Finanzkrisen ließen einen Kollaps der Wirtschaft möglich werden, der zumindest teilweise von Menschen verursachte Klimawandel wurde spürbarer und politisch war nach dem zunächst optimistisch wahrgenommenen Systemzusammenbruch des politischen Ostblocks um 1990 schon bald keine Rede mehr vom ewigen Frieden und dem Ende der Geschichte. Die europäischen Kriege erst im ehemaligen Jugoslawien und nun um die Ukraine zeigen dies auf drastische Weise. Hinzu kamen die narzisstischen Verletzungen des Westens, der nur widerwillig zur Kenntnis nehmen wollte, dass er, global gesehen, nicht mehr der Nabel der Welt war. Darüber hinaus belasten die Migrationsbewegungen vom Süden in den Norden die Gemüter und die Sozialsysteme. Schließlich die Corona-Epidemie, die einige gesundheitliche Langfristfolgen und politische Verwerfungen hinsichtlich der Impffrage mit sich brachte. Bedrohungsgefühle und Verlustängste ließen sich nicht mehr verdrängen. Sie bestimmen seitdem die sozialen und politischen Diskurse der sogenannten westlichen Welt. Das Fortschrittsnarrativ ist beschädigt oder in Frage gestellt.
In einer solchen Lage waren Regressionstendenzen erwartbar. Populistische Bewegungen ziehen Gewinn aus dem Gefühl der Verunsicherung und offerieren das Versprechen, es könne mit dem Fortschritt so weiter gehen wie in den Jahrzehnten davor, wenn, ja wenn eine Umkehr stattfindet. Grenzen dicht machen, die libertär gewordene Gesellschaft zu alten Werten zurückführen, politische Systemregeln in Frage stellen, Geschlechter wieder eindeutig benennen, der woken Sprache einen Garaus machen und die nationale Identität hervorheben. Ohne Bezugnahme auf das Verlustnarrativ wäre eine solche Politstrategie nicht möglich. Letztlich jedoch handelt es sich bei den populistischen Antworten um Therapieprogramme mit rückwärtsgewandten Projektionen, die ihnen zwar eine gewisse Attraktivität verschaffen, aber nur wenige realisierbare Antworten auf gegenwärtige und künftige Herausforderungen bieten. Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen. Viele, die sich an vergangene Zufriedenheiten aus Zeiten des Fortschrittsnarrativs klammern und gleichzeitig Schiefgelaufenes verdrängen, hätten aber gerne genau dies.
Kommen wir zurück zur anfangs gestellten Frage nach den Museen. Warum immer mehr davon? Zunächst: Eine einfache Antwort gibt es nicht. So lässt sich auf Bestrebungen des Stadtmarketings verweisen, mit möglichst spektakulären Neubauten Touristenscharen anzulocken. Oder auf die immanenten Mechanismen des Kunstbetriebs mit seinen Agenten, Galeristen und Investoren sowie deren Interessen. Die Werke zeitgenössischer Künstler und Künstlerinnen, die in Museen vertreten sind, steigen meist im Preis und erzielen auf dem Auktionsmarkt höhere Erlöse. Auch mancher Sammler bietet seine Werke als Leihgabe weniger aus altruistischen Motiven an, sondern setzt mit ihrer Präsenz in Museen auf Wertentwicklung. Kurz, Kunst ist nicht zuletzt ein Faktor der Warenwirtschaft, der es bei nüchterner Betrachtung eher um Pekuniäres geht als um Schöngeisterei. Dies alles ist keine neue Erkenntnis. Darüber hinaus gibt es weitere Gründe für ein Interesse am Museumsbau.
Galt schon das 19. Jahrhundert als Epoche der großen Museumsgründungen, um so der gesellschaftlichen Dynamik und dem zunehmenden Verschwinden des Alten einige herausgehobene Orte zur Bewahrung ästhetischer Artefakte der Vergangenheit entgegenzusetzen, ist seit den 1970er Jahren eine neue Konservierungsphase zu verzeichnen. Der allgemeine Fortschrittsglaube hin zum Besseren galt zwar noch, gleichwohl breitete sich das Gefühl aus, dass die bislang praktizierte Beseitigung des Alten einige im Alltag spürbare Verluste mit sich brachte. Die Moderne zeigte ihre Schattenseiten nicht zuletzt im Städtebau und in der Verkehrsplanung, bei der Naturvernichtung und in Gestalt von Umweltfreveln. Man widmete sich deshalb in den letzten Jahrzehnten des Zwanzigsten Jahrhunderts jenseits des Ideals der autogerechten Stadt nun auch der Sicherung gründerzeitlicher Stadtquartiere und historischer Kulturlandschaften. Nostalgie war angesagt. Flohmärkte schossen wie Pilze aus dem Boden. Denkmalschutzbehörden und die Umweltbewegung profitierten von der neuen Bewahrungskultur.
Als das Fortschrittsnarrativ nach der Jahrtausendwende dann endgültig brüchig wurde und nicht zu erwarten war, dass die Verluste des Alten durch Vorzüge des Neuen klaglos zu verschmerzen wären, verstärkten sich die restaurativen Ambitionen. Und wenn es wegen vorangegangener Verfallsprozesse zu spät war für korrigierende Schönheitseingriffe, wurden alte Bauwerke oder ganze Stadtquartiere kurzerhand nachgebaut. Das Berliner Stadtschloss, heute verschämt nur noch Humboldt-Forum genannt, der Brandenburger Landtag und die Garnisonkirche in Potsdam oder die Neugestaltung des Römerquartiers in Frankfurt am Main sind Beispiele für Bauten mit Fassadenshoweffekt. Sie haben nichts mit Kulturgutbewahrung zu tun, sondern sind Reflexe auf Verlustängste. Vermeintlich Historisches wird offeriert, um Kontinuität zu suggerieren. Am Ende aber führt es in eine fiktive Welt des Anscheins, die sich im Übrigen mit virtuellen Realitäten der Neuzeit bestens vertragen wird.
Auch die Museumslandschaft profitiert von dem Trend. Insbesondere die Akteure der Contemporary Art betonen die Bedeutsamkeit ihrer Produkte und werden wohl bald für jedes Jahrzehnt der Moderne ein eigenes Museum fordern. Zeug genug ist ja vorhanden. Ein weiteres Kapitel betrifft die Fotografie. Waren die Bestände der Archive bis zum Ausklang des analogen Zeitalters weitgehend statisch sortiert, so erfordert die Konservierung fotografischer Bilder seit der Digitalisierung des Mediums neue Antworten. Kulturgutbewahrung ist da nicht das einzige Motiv. Es geht auch um den dauerhaften Bestand großmeisterlicher fotografischer Werke und die Interessen der beteiligten Akteure. Auf fotosinn ist dies wiederholt thematisiert worden.
Das oben erwähnte Buch Verlust. Ein Grundproblem der Moderne von Andreas Reckwitz, ist bei Suhrkamp erschienen. Insbesondere die ersten Kapitel sowie der Dritte Teil einschließlich des Ausblicks lesen sich spannend. Dazwischen ist die Lektüre etwas mühselig. Die Dinge wiederholen sich mit akribischer soziologischer Ordnungsmanier – Erstens, Zweitens, Drittens – und hätten hier und dort ein wenig mehr präzise empirische Unterfütterung gut vertragen. Ein grundlegendes Theoriewerk soll Verluste aber wohl auch nicht sein. Es als einen lesenswerten Essay zur Zeitdiagnostik zu bezeichnen, trifft den Charakter vielleicht am besten.