Fotografie und Buchkunst vom Feinsten
Zu den herausragenden Fotografinnen und Fotografen in der DDR und darüber hinaus zählt die 1930 geborene Evelyn Richter. Ihr Name gehört in eine Reihe neben Sibylle Bergemann, Arno Fischer, Ute und Werner Mahler, Roger Melis, Harald Hauswald oder der großartigen, vor wenigen Tagen verstorbenen Helga Paris. Gemeinsam ist ihnen ein sozialdokumentarisch angelegter Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit, meist im schnörkellosen Schwarzweiß und nicht immer zur Freude der offiziellen Kulturpolitik des damaligen Staates. Eine große Einzelausstellung von Evelyn Richter gab es bereits im Düsseldorfer Kunstpalast. Gegenwärtig ist sie in Leipzig zu sehen. Begleitend liegt ein Buch zum Werk vor, das durch seine sorgfältige Gestaltung aus der Menge üblicher Kataloge bemerkenswert herausragt.
Nach abgeschlossener fotografischer Ausbildung immatrikulierte sich Richter 1953 im Studiengang Fotografik der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB). Zwei Jahre später erfolgte die erzwungene Exmatrikulation, weil sie sich den bildästhetischen Vorgaben des sozialistischen Realismusverständnisses nicht unterwerfen wollte. So galt etwa die spontane Straßenfotografie in der HGB als verpönt. Schnell wurde da ein Subjektivismusverdacht geäußert. Richter musste nach dem Ausschluss von der Hochschule also zweigleisig denken und fotografieren, wollte sie nicht ins berufliche Abseits geraten. Auf der einen Seite gab es Auftragsarbeiten, bei denen die auszutestenden Spielräume mitunter eng waren, auf der anderen Seite die freien Arbeiten mit einer deutlich individuellen Sichtweise. Und dennoch, in beiden Genres verstand sich Richter eher als Dokumentaristin denn als Künstlerin. Eine Gratwanderung, die nach 1989 im nun gesamtdeutschen Fotoestablishment für einige Unsicherheiten hinsichtlich ihrer Einordnung führte.
Zu Richters frühen Auftragsarbeiten aus dem Jahr 1956 zählt eine Fotografik für das Programmheft des Maxim-Gorki-Theaters in Berlin, die stark an die avantgardistische Fotografie der 1920er Jahre wie auch an den Stil der Subjektiven Fotografie erinnert. Wenig später, nun gänzlich traditionell gestaltet, trug Richter eine Reihe von Fotografien für eine Dokumentation sorbischer Volkstrachten bei. Es folgten Bühnen- und Konzertfotografien, etwa von Paul Dessau, Ernst Busch, David Oistrach oder Swjatoslaw Richter. In verschiedenen Wochen- und Monatszeitschriften der DDR war sie regelmäßig mit Fotografien vertreten, etwa in Neues Leben, Sibylle oder den Leipziger Blättern. Im westdeutsche Merian erschienen ihre Fotografien von Otto Dix, vom Thomanerchor, aber auch von der Sprengung der Leipziger Universitätskirche im Jahr 1977. Einige Jahre zuvor hatte Richter das Leben von Schichtarbeitern sowie den Alltag in Industriebetrieben fotografiert. Frauen im Beruf bildeten ein wiederkehrendes Thema. Richters Leidenschaft für das Fotografieren von Kindern führte zu dem in großer Zahl aufgelegten Bildband Entwicklungswunder Mensch. Eine andere Dokumentation befasste sich mit dem Leben einer Leipziger Chirurgin. Die Ausstellung und der Ausstellungskatalog belegen diesen Zweig der veröffentlichten Arbeiten Richters mit zahlreichen Bildern und Dokumenten. Die Einladungen zur photokina nach Köln sowie ins französische Arles weisen im Übrigen darauf hin, dass sie aufgrund der in der DDR offiziell gezeigten Arbeiten auch in der westlichen Fachszene schon früh Beachtung fand.
Auf der anderen Seite zeugen zahlreiche Fotografien aus Richters Archiv von ihrer individuellen Sicht auf die Dinge, frei von ästhetischen Vorgaben und Auftragsreglementierungen. Im Jahr 1955 hatte sie in West-Berlin die legendäre, von Edward Steichen kuratierte Ausstellung The Familiy of Man besucht, die, wie auch die Fotografien der Agentur Magnum, für eine ganze Generation dokumentarisch orientierter Fotografinnen und Fotografen stilbildend sein sollte. Alltägliches und Portraits aus Moskau, Berlin und Leipzig, aus Thüringen oder von der Ostsee, Menschen im Zug oder beim Besuch von Kunstausstellungen, aber auch Journalistisches, etwa vom Besuch Nikita Chruschtschows bei der Leipziger Frühjahrsmesse, sind Beispiele für Richters freie Arbeiten. Der sehr gelungene Katalog geht auch hierauf in Bild und Text ausführlich ein. Darüber hinaus enthält er neben den Texten im Bildteil mehrere Essays, die einige Schwerpunkte aus dem Schaffen Evelyn Richters vertiefen. Den Abschluss bildet die Laudatio von Florian Ebner anlässlich der Verleihung des Bernd und Hilla Becher-Preises 2020, im Jahr vor ihrem Tod. Der Bildteil des Kataloges zeigt im Übrigen neben Fotografien aus dem Werkverzeichnis auch Arbeitsabzüge, Kontaktbögen, Zeitungsartikel und andere Dokumente, begleitet durch erläuternde Texte. Der Druck der Fotos aus Richters eigener Werkauswahl, aber auch ihrem später erschlossenen Archiv ist von exzellenter Qualität, die bemerkenswerte Gesamtgestaltung ebenso. Leipziger Tradition von Grafik und Buchkunst eben.
Auch die Ausstellung ist hervorragend konzipiert. In mehreren Räumen wird das Werk Richters in sinnvoll zusammengestellten Gruppen umfangreich präsentiert. Die überwiegend schwarzweißen Vergrößerungen zeugen im Übrigen vom Reiz der klassischen analogen Fotografie. Keine überscharfen Riesenformate, wie sie digital möglich sind, sondern eher unspektakulär, aber ungemein wirkungsvoll. Das Korn des Negativfilms wird nicht als störend empfunden. Ganz im Gegenteil, es verstärkt die leicht impressionistische Anmutung der analogen Fotografien, die gar nicht erst den Anspruch erheben, auch noch den kleinsten Pickel in brutaler Schärfe abbilden zu wollen. Die Ausstellung ist, so gesehen, auch ein Stück Erinnerungsarbeit an die Zeit vor den inzwischen üblich gewordenen digitalen Zaubereien. Und an eine Fotografie, die es heute bestenfalls in einer Nische für bedrohte Arten gibt.
Die Ausstellung im Leipziger Museum der bildenden Künste ist noch bis zum 17. März 2024 zu sehen. Der Begleitkatalog ist im Verlag Spector Books erschienen und kostet in der Ausstellung ein paar Euro weniger als im Buchhandel. Ausstellung und Katalog sind unbedingt zu empfehlen.