Empfindsamkeit oder Empfindlichkeit

Mal wird an einer Hochschule ein Gedicht an der Wand übertüncht, weil es sensible Gemüter verletzen könnte, mal eine Ausstellung verhindert oder abgebrochen, weil die Bilder als unzumutbar gelten, oder, wie in einigen amerikanischen Bibliotheken, der Bestand gesäubert, weil die Werke allzu freigeistig seien. Auch hierzulande werden Bücher neu bearbeitet oder aus dem Verlagsprogramm genommen, wenn der originale Sprachduktus nicht mehr opportun erscheint. Vorsicht überall. Es breitet sich eine Empfindlichkeit aus, die stets damit begründet wird, dass irgendjemand durch die Begegnung mit inkriminierten Artefakten ein Leid erfahren könnte. Eingreifende Forderungen kommen von konservativer und religiös fundamentalistischer Seite ebenso wie von vermeintlich progressiver, feministischer, linker. In der Folge zeigen sich Elemente einer vorausschauenden Selbstzensur. Für die liberale Gesellschaft insgesamt, aber insbesondere für die Kunst und die Literatur ist das fatal.

Den Romantikern um 1800 ging es um die Frage der Repräsentation und Verarbeitung der äußeren Welt in der inneren. Empfindsamkeit bedeutete die radikale Fokussierung auf das Subjektive. Antisozial war dies jedoch nicht. Es ging auch um die Begegnung der Subjekte untereinander und die Sehnsucht nach intersubjektiv geltenden Wahrnehmungen, gleichzeitig aber um den Respekt gegenüber Gefühlen anderer, die man/frau selbst nicht nachvollziehen konnte. Alle Sinne waren geschärft, ohne Rückzug in ein solipsistisches Schneckenhaus. Die Romantiker lechzten nach Reizen und beobachteten mit geschärftem Blick, was mit ihnen geschah. Sich selbst und auch anderen trauten sie zu, damit souverän umgehen zu können. Übergeordnete Kontrollinstanzen erschienen überflüssig. Schon vor Nietzsche und der akademischen Psychologie ging es dabei nicht nur um die Frage, was die wahrgenommenen Dinge auslösen, sondern auch, wo die tieferen Ursachen dieser Wirkungen liegen. Tabuisieren und Wegsehen bei unliebsamen Themen galt als verständlich, aber auch als Vermeidungsverhalten. Dafür musste es Gründe geben. Freud und andere nannten es später Verdrängung. Womit man nicht konfrontiert werden möchte, muss in seiner Existenz negiert beziehungsweise vorsorglich verhindert werden. Aus dem Auge, aus dem Sinn. Damit sind wir in der Gegenwart angelangt.

Anstelle romantischer Empfindsamkeit, wie vor zweihundert Jahren, breitet sich eine aggressive Empfindlichkeit aus: Ein Leben im Kokon beschützter Ich-Absicherung. Rechte wie linke Phantasmen treffen sich dabei in trauter Einigkeit. Von beiden wird der Identitätsbegriff genutzt, um Kritik oder Angriffe zu blockieren und das Eigenverständnis einer Gruppe, sei dies politisch, sexuell oder religiös begründet, zu immunisieren. Wer nicht zum eigenen Stamm gehört, habe kein Recht zu Aussagen bezüglich der Gruppe und müsse sich zurückhalten. Wer dem nicht folge, dem ist, etwa mit einem Shitstorm, auf die Sprünge zu helfen. Aber es müssen gar nicht die Stammesmitglieder selbst sein, die Sprachvorschriften machen. Mitunter sind Sittenwächter unterwegs, die nicht aufgrund selbst erlebter Gefühlsverletzungen agieren, sondern ein Ehrenmandat im Interesse Dritter geltend machen. Letztlich kommt dies einem paternalistischen Verhalten gleich.

Niemand ist gezwungen, sich Bücher, Bilder, Theaterstücke oder anderes anzusehen, wenn dort Dinge oder eine Sprache zu erwarten sind, die nicht gefallen oder als anstößig empfunden werden. Aber wer mit dem Unliebsamen konfrontiert wird, hat auch dann noch die Freiheit des Wegschauens oder Ignorierens. Mitunter drängt sich jedoch der Eindruck eines Lustmechanismus auf, der begierig die Kunst durchforstet und die Literatur durstöbert, um geradezu manisch das Anstößige zu entdecken. Auch vor Werken aus früheren Jahrhunderten wird nicht Halt gemacht. Und wenn sich dann aus Sicht selbsterklärter Vormünder ein potentieller Betrachter oder Leser verletzt fühlen könnte, soll schon einmal ein Bild aus dem Museum verschwinden oder ein literarisches Werk wird auf den informellen Index unstatthafter Bücher gesetzt. Winnetou und Struwwelpeter lassen grüßen.

Das Ganze erinnert an frühere Jagden nach dem Pornografischen, bei dem mit bigottem Eifer nach genau dem gesucht wurde, was man abzulehnen vorgab. Und wenn dann etwas von dem Bösen entdeckt wurde, landete es beim Zensor in einer Schublade, die zur Aufrechterhaltung des eigenen Scharfblicks hin und wieder mit Lust und Freude heimlich geöffnet wurde. Es ist eine Mischung aus Begierden, Projektionen, Empörungssucht und egozentrischer Anmaßung. Am eigenen Wesen soll die Welt genesen. Fremde Ansichten, Meinungen und Sprachformen auszuhalten, auch offensichtlich dumme, fällt offenbar immer schwerer. Im Namen einer emanzipativ gemeinten, im Kern jedoch anmaßenden, Aufklärungsargumentation wird Unerwünschtes mit dem Signum der Unbotmäßigkeit belegt. Aus einem vermeintlich moralischen Impetus heraus wird die eigene Weltsicht absolut gesetzt. Fundamentalisten gibt es nicht nur fernab.

Betrachtet man die Phänomene als zusammengehörig, lässt sich ein Rückgang der Ambiguitätstoleranz und eine Zunahme von Empfindlichkeit konstatieren. Versteht man unter Ambiguitätstoleranz die Fähigkeit und Bereitschaft, Vieldeutiges und Fremdes zu ertragen und auf Eindeutigkeit und Nachvollziehbarkeit zu verzichten, wäre eine Ablehnungshaltung, die mit Verletztheit begründet wird, Ausdruck einer Schutzstrategie, die sich aus dem Gefühl des Angegriffenseins speist. In bestimmten Fällen realer Aggressionen in Wort und Tat ist dies auch nachvollziehbar. Und dennoch: Ob die Zunahme der Empfindlichkeit ein tatsächliches Phänomen ist oder ob die Verletztheit nur theatralisch zur Schau gestellt wird, bleibt ein wenig unklar. Mal im Ernst, wer fühlt sich durch Karl Mays Winnetou wirklich verletzt? Es bleibt der Verdacht, dass es nicht zuletzt Skandallust ist, die sich als Empörung äußert. Die gegenwärtigen Debatten hinsichtlich einer Forderung nach sprachlichen Modifizierungen lassen den Eindruck selektiver, theatralisch vorgetragener Befindlichkeiten entstehen. Wer fühlt sich im Übrigen hierzulande getroffen, wenn Deutsche im Ausland hier und dort als Krauts oder Kartoffeln tituliert werden?

Winnetou ist nur ein Symptom. Würde die gesamte Kunst- und Literaturgeschichte nach heutigen Maßstäben und in Zukunft nach den dann geltenden umgeschrieben werden, so käme das einer Verdrängung aller Erscheinungen gleich, die nicht der jeweiligen Norm entsprechen. Es wäre das Modell Pippi Langstrumpf: Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt. Folgt man/frau dieser Strategie, müssten alle Zeichen des Vergangenen nach aktuellen Moralmaßstäben bewertet und gegebenenfalls modifiziert oder getilgt werden. Dass das gleiche Prinzip, wenn es in einigen Jahrzehnten aufs Neue zur Anwendung kommt, die heutigen Ansichten wieder auslöschen könnte, wird von einem unhistorischen Bewusstsein nicht reflektiert. Man richtet sich lieber in dem lächerlichen Glauben ein, die Gegenwart habe den Höhe- und Endpunkt der Moralgeschichte erreicht. Nur wer sich sicher fühlt, in der Zukunft nicht selbst in Frage gestellt zu werden, urteilt ohne Demut über die Vergangenheit und ändert deren Symbole und Sprache nach aktuellem Geschmack. Dass die Sprache ein dynamisches System mit permanenten Veränderungen ist, bleibt unbestritten. Aber ob diese Veränderungen mit Kampfeslust und theatralischem Gestus eingefordert werden müssen, ist eine andere Frage.

Wir sind mit diesen Gedanken in der Debatte zur Cancel Culture angekommen, die hier nicht weiter ausgebreitet werden soll. Es möge der Hinweis genügen, dass es dazu auf der einen Seite Stimmen gibt, die eine Bedrohung des liberalen Kunst- und Kulturlebens fürchten, und auf der anderen Seite die Empfehlung, die ganze Angelegenheit nicht zu ernst zu nehmen, da es sich überwiegend um Randerscheinungen des Feuilletons handele. Ein kritisches Plädoyer liegt mit dem Titel „Cancel Culture“ – Ende der Aufklärung? von Julian Nida-Rümelin vor. Zu denen, die vor überzogenen Reaktionen warnen, gehört Adrian Daub, der dies in Cancel Culture Transfer. Wie eine moralische Panik die Welt erfasst begründet. Beide Bücher sind lesenswert. Zusammenfassende Rezensionen zu dem jeweiligen Autor finden sich in den Beiträgen Julian Nida-Rümelin – „Cancel Culture“ – Ende der Aufklärung? des SWR bzw. Viel Lärm um nichts von Deutschlandfunk Kultur.

Als Überblick zum Thema sind weiterhin zu empfehlen die Artikel Cancel Culture, der Papst und die Hexenjagd des 21. Jahrhunderts von Kiana Tazarkesh, Cancel Culture – Was ist das eigentlich? von Katrin Klingschat oder der nahezu gleichnamige Beitrag „Cancel Culture“ – Was ist das eigentlich? des NDR.

Im Übrigen lässt sich zeigen, dass die Tendenz zu einer überhöhten Empfindlichkeit auch vor der Fotografie nicht Halt macht. Wir kommen darauf zurück.

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Die neue Empfindlichkeit

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