Elitäres in Graz
Die am vergangenen Wochenende zu Ende gegangene Ausstellung Actinism der Camera Austria mit einer Serie schwarzweißer Pflanzenaufnahmen von Anouk Tschanz im Haus der Kunsthalle Graz hinterließ einen zwiespältigen Eindruck. Spontan stellte sich zunächst eine gewisse Ratlosigkeit ein. Schwarzweiß fotografierte Blätter, Sonnenblumen und Steine in Serie, nun ja. Nicht so spannend. Die nachgehende Beschäftigung führte dann aber doch zu weiteren Gedanken: Wollen die farblosen Aufnahmen vielleicht ein Hinweis auf das konstruktivistische Wesen der Fotografie sein? Und wen interessiert so etwas heutzutage?
Die Silver Gelatin Prints auf Barytpapier zeigen hauptsächlich einzelne Blätter verschiedener Pflanzenarten. Die Kollektivität der Gewächse wird individualisiert. Im Vordergrund steht nicht die ganze Pflanze, die Konzentration richtet sich vielmehr auf eines ihrer Teilelemente. Mal makellos, mal von Insekten angefressen oder von Regen oder Tau benetzt. So wie das Leben eben ist.
Eine Allegorie vielleicht: Der nach Einzigartigkeit strebende, in seinen Grundformen jedoch trotz aller Verletzungen stets kollektiv geprägte Einzelne? Ob Anouk Tschanz solchen Gedankengängen nachging, bleibt ungewiss. Wir selbst haben sie erst nach dem Besuch der Ausstellung entwickelt. Dort herrschte zunächst die erwähnte Ratlosigkeit. Was sagen uns die Pflanzenbilder? Wozu überhaupt solche Fotografien?
Auf der Website der Camera Austria wird die Intention von Anouk Tschanz, geboren 1994 in Bern, künstlerisch ausgebildet in Lausanne, Berlin und Glasgow, in einem galerieüblichen Jargon zusammengefasst: Sie untersucht in ihren Arbeiten den Prozess des Sehens und Wahrnehmens der uns umgebenden Welt und deren fotografische Wiedergabe. Dabei setzt sie bewusst auf die aufwendigen Verfahren der analogen Schwarz-Weiß-Fotografie, um in einer von beschleunigten digitalen Bildentstehungsprozessen geprägten visuellen Kultur den Fokus auf die Wahrnehmung des Einzelbildes zu richten. In der Ausstellung sind drei jüngere Bildserien kombiniert, die jeweils klassische Sujets der Naturfotografie aufgreifen: Steine (2024), Sonnenblumen (2023) und Blätter (seit 2019). Letztere stehen im Zentrum vonActinism.
Eine solche Trivialbeschreibung der Fotografien von Anouk Tschanz kann getrost übergangen werden. Eher bietet sich ein Besuch der Website der Künstlerin an, hier insbesondere des Abschnittes Blätter. Dieser bietet einen Eindruck von der in Graz gezeigten Serie. Ebenfalls informativ ist ein Folder zur Ausstellung.
Warum der Ausstellungstitel Actinism? Der Begriff verweist auf die chemische Wirkung der Sonnenstrahlen und deren Bedeutung für die pflanzliche Fotosynthese. Aber nicht nur das. Gemeint sind auch andere fotochemisch wirkenden Strahlen. Actinism kennzeichnet somit die Lebensgrundlage von Pflanzen sowie gleichzeitig das Prinzip der, zumindest analogen, fotografischen Technik. Diese Parallelität scheint ein Indiz dafür, dass es der Fotografin und den Ausstellungsmachern nicht nur um Pflanzenbilder an sich ging, sondern auch, vielleicht sogar vor allem, um deren Herstellungsbedingungen.
Bestärkt wird unsere Vermutung durch einen Briefwechsel zwischen der Kuratorin Anna Voswinckel und der Künstlerin Markéta Othová, widergegeben im Begleitblatt 87 der Reihe Camera Austria Exhibitions. Ihr Gedankenaustausch zu den Fotografien von Anouk Tschanz nimmt Bezug auf Vilém Flussers Für eine Philosophie der Fotografie, das im fünften Kapitel explizit zwischen der farbigen und der schwarzweißen Fotografie unterscheidet. Die nachfolgenden, kursiv gesetzten Zitate sind diesem Kapitel entnommen.
Schwarz-weiße Fotos sind die Magie des theoretischen Denkens, denn sie verwandeln den theoretischen linearen Diskurs zu Flächen. Dies bedarf einer Erläuterung.
Das gesamte, umfangreiche Werk Flussers ist durch den Gedanken geprägt, dass es sich bei der Kamera um einen Apparat handelt, der aufgrund seiner technischen Konstruktionsbedingungen nicht einfach nur neutral verdoppelnde Bilder der Realität schafft, sondern eine Suggestion von Wirklichkeit erzeugt, die vor allem dem Programm der Maschine folgt. Gleichwohl ist unser alltägliches Bewusstsein dadurch geprägt, dass einer Fotografie etwas Objektives anhaftet. Wer sich Fotos naiv ansieht, so Flusser, für den bedeuten sie (...) Sachverhalte, die sich aus der Welt heraus kommend auf Flächen abgebildet haben. Für ihn stellen die Fotos die Welt selbst vor. Kritische Überlegungen zu einer Philosophie der Fotografie werden dem naiven Betrachter deshalb nur als müßige Denkgymnastik erscheinen. Er nimmt stillschweigend an, dass er durch die Fotos hindurch die Welt dort draußen ersieht, und dass daher das Universum der Fotografie sich mit der Welt dort draußen deckt.
Offenkundig wird das Problem bei schwarzweißen Fotografien, denn ebensolche Sachverhalte gibt es in der Realität nun einmal nicht. Bei den Begriffen Schwarz und Weiß handelt es sich um theoretische Kategorien der Optik. Schwarz bedeutet das Fehlen jeglicher Lichtfrequenzen, Weiß die gleichzeitige Gesamtheit aller. Schwarzweiße Objekte gibt es in der Realität nicht, schwarzweiße Fotografien hingegen schon. Sie sind Bilder von Begriffen der Theorie der Optik, das heißt, sie sind aus dieser Theorie entstanden. Für Farbfotografien gelten laut Flusser ähnliche, allerdings noch komplexere Codierungsprozesse. Dies führt zu dem scheinbaren Paradox, dass Farbfotografien zwar einen stärkeren Realitätseindruck als schwarzweiße erzeugen und echter wirken, aber dadurch eben noch lügnerischer sind, da sie ihre theoretischen Konstruktionsvoraussetzungen verbergen. Schwarzweiße Fotografien sind, so Flusser, deshalb wahrer. Bei ihnen ist offenkundig, dass sie ein Konstrukt ohne direkte Entsprechung in der Realität sind.
Auch Anouk Tschanz selbst hatte sich in früheren Arbeiten explizit mit Fragen der fotografischen Bildrealität befasst. Kurz: Schwarzweiße Fotografien machen noch viel mehr als Farbfotografien den konstruktivistischen Charakter jedes Kamerabildes deutlich. Während das farbige eine hohe Realitätssuggestion mit sich bringt, zeigt das monotone Bild unmissverständlich, dass es etwas anderes darstellt als eine gedoppelte Wirklichkeit. Diese ist nun einmal nicht monoton. Für die Aufnahmen farbiger Pflanzen gilt dies in besonderer Weise. Ging es Tschanz also letztlich auch hier um Medienkritik? Wenn ja, war die Ausstellung in Graz ein Wagnis. Denn trotz der grafischen Wirkungen der gezeigten Bilder und deren Anlehnung an Klassiker wie etwa Karl Blossfeldts streng-formale Pflanzenfotografien sind schwarzweiße Aufnahmen in einer bunten Digitalgegenwart nun einmal nicht besonders aufregend. Aber selbst in Farbe fotografiert würde Ähnliches gelten. Pflanzenblätter oder gelbe Sonnenblumen in Nahaufnahme versetzen den verwöhnten reizhungrigen Ausstellungsbesucher nicht unbedingt in Wallung. Und damit kommen wir zur zweiten der eingangs gestellten Fragen. Wen interessiert so etwas heutzutage?
Die Ausstellung der Camera Austria erhielt ihren Aufmerksamkeitswert weniger aufgrund inhaltlicher Gestaltungen, sondern wegen des potentiell theoriegeladenen Hintergrundes. Ob dies für eine publikumswirksame Schau ausreicht, darf mit einem kleinen Fragezeichen versehen werden. Die eigene spontane Ratlosigkeit beim Betrachten der Aufnahmen war jedenfalls real, mag sie auch subjektiv und durch anfängliche Denkfaulheit geprägt gewesen sein. Erst nachfolgende medienkritische Überlegungen und der Rekurs auf Vilém Flussers Philosophie der Fotografie hatten zu einer veränderten Sichtweise geführt. Im Grunde eine ziemlich verkopfte Angelegenheit. Vielleicht gilt dies aber für die Gegenwartskunst ganz allgemein. Bei oberflächlicher Betrachtung stellt sich nicht selten ein Trivialgefühl ein und erst der vertiefende Denkaufwand führt mitunter zu neuen Erkenntnissen. So wie bei der Ausstellung in Graz. Eigentlich nicht schlecht, jedenfalls für die Reflexionsbemühungen museumsaffiner Besucherinnen und Besucher. Breitere Kreise wird man für eine Beschäftigung mit dem Medium Fotografie und dessen Eigenheiten damit aber wohl nicht gewinnen können. Fotokunst als eine exklusive Angelegenheit schöngeistiger Denkmenschen.
Letztlich spiegelt dies den Stand der gegenwärtigen Fotografie wider. Da gibt es auf der einen Seite die massenhaften Smartphonebilder und deren Verbreitung in den Sozialen Medien sowie die Gebrauchsfotografie in der Werbung und den Newskanälen, auf der anderen Seite die sogenannte Kunstfotografie. Hier hat Experimentelles einen ähnlich randständigen Status wie die Fotografien von Anouk Tschanz, die in gewisser Weise elitär erscheinen und wohl eher etwas für Spezialistinnen und Spezialisten sind. Darüber hinaus gibt es die Großmeisterinnen und Großmeister, die sich aus der engeren fotografischen Ausstellungsszene befreit und längt einen Platz im allgemeinen, größeren Kunstzirkus eingenommen haben. Hier tummeln sich Cindy Sherman, Andreas Gursky, Wolfgang Tilmans und dergleichen. Aber das ist eine andere Geschichte.