Die Sammlung Wilde

Das Stöbern nach vergriffener fotografischer Literatur und nicht mehr lieferbaren Bildbänden, die man in Antiquariaten, auf Flohmärkten, gelegentlich auch in Museumsbuchhandlungen findet, hat seinen besonderen Reiz. Da gibt es viel Interessantes zu entdecken, oftmals für kleines Geld. Die Umschlagzeit im Buchhandel ist heutzutage so kurz, dass viele Werke schon relativ kurz nach ihrem Erscheinen wieder aus den Verlagsprogrammen genommen werden. Insbesondere gilt dies für Publikationen, die anlässlich von Ausstellungen veröffentlicht worden sind.

Nahezu jeder Besuch in Leipzig, wie kürzlich anlässlich des Dylan Konzertes in der Arena, führt, zumindest nebenbei, in das Museum der Bildenden Künste und dessen kleine, aber immer wieder interessante Buchhandlung. Auch diesmal verließ ich das Haus nicht ohne eine Tüte in der Hand, in der sich neben zwei, drei anderen Dingen eine schon lange nicht mehr lieferbare Publikation des Verlags Schirmer/Mosel aus dem Jahr 1999 befand: Mechanismus und Ausdruck. Die Sammlung Ann und Jürgen Wilde. Das Buch erschien ursprünglich anlässlich der vom Sprengel Museum in Hannover gezeigten gleichnamigen Ausstellung, die von Inka Graeve sowie den Wildes selbst kuratiert worden war. In Textbeiträgen wird die Geschichte der Sammlung bis zum Erscheinungsjahr des Buches dargestellt, ergänzt um zahlreiche Bildtafeln des beeindruckenden Konvoluts an Fotokunst, die hier zusammengetragen wurde.

In den 60er Jahren erwachte unser Interesse an der Fotografie als Kunst. Mit diesen Worten beginnen Ann und Jürgen Wilde ihre Erinnerungen. Fotografien waren in den Museen und Galerien noch kaum vertreten. Aber es lag in der Luft, dass sich dies ändern würde; in Amerika war man bereits deutlich weiter. Nach dem Erwerb von Teilen der Sammlung des Kunsthistorikers Franz Roh, die vom Beginn der Fotografie im 19. bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts reichte, eröffneten die Wildes Anfang 1972 in Köln die erste auf dieses Medium konzentrierte kommerzielle Galerie. Parallel wurde die Sammlung ausgebaut. Grundstock bildeten neben Fotografien des 19. Jahrhunderts Klassiker der Moderne wie Moholy-Nagy, El Lissitzky, Max Ernst, Renger-Patzsch, Aenne Biermann oder Karl Blossfeldt, dann auch August Sander, Germaine Krull, Man Ray, André Kertész und Friedrich Seidenstücker. Zeitgenössische Fotografinnen und Fotografen wie Bernd und Hilla Becher, Lee Friedlander, David Hockney, Gabriele und Helmut Nothhelfer, Ralph Gibson oder Jan Groover kamen hinzu.

Die Galerie in Köln wurde bis 1985 betrieben, die Sammlung selbst von den Wildes schließlich 1999, nicht zufällig Erscheinungsjahr der vorliegenden Publikation, als Leihgabe dem Sprengel Museum in Hannover zur Verfügung gestellt. Im gemeinsamen Buchvorwort des Direktors und des Kurators für Fotografie des Museums wurde der Erwartung Ausdruck gegeben, dass sich hieraus eine permanente Heimstatt der Sammlung entwickeln würde. Die Hoffnung trog, da sich das Sprengel Museum in den folgenden Jahren nicht in der Lage sah, die Sammlung sowie die dazugehörenden fotografischen Archive entsprechend den Erwartungen der Wildes wissenschaftlich adäquat zu betreuen. Die Münchener Pinakothek der Moderne zog schließlich das große Los und übernahm 2010 das Ganze, darunter tausende von Originalabzügen. Seitdem präsentiert sie in regelmäßigen Ausstellungen Teile der Sammlung.

Die Publikation Mechanismus und Ausdruck. Die Sammlung Ann und Jürgen Wilde aus dem Jahr 1999 hat somit inzwischen selbst einen historischen Charakter bekommen, dokumentiert sie doch den, inzwischen in dieser Form obsolet gewordenen, Zwischenstand einer der bedeutendsten fotografischen Sammlungen in Deutschland. Aber über diese Momentaufnahme hinaus bleiben die in hervorragender Qualität gedruckten Fotografien des Buches, die ein Kompendium der Moderne seit den Zwanziger Jahren bis zum Ende des Jahrhunderts bilden, und es bleiben im Textteil die lesenswerten Beiträge der Wildes sowie Fotografie kann Kunst sein, wenn sie aus einem kreativen Impuls heraus entstanden ist[nbsp]von Inka Graeve, die 2002 als Leiterin der Sammlung für Fotografie und Neue Medien an den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen / Pinakothek der Moderne, München berufen wurde.

Vor dem Hintergrund des Fotobooms der 90er Jahre, nicht zuletzt ausgelöst durch die Digitalisierungswelle, ruft der Beitrag Graeves die im Vergleich zur Gegenwart gänzlich andere Situation der 60er in Erinnerung. Neben der professionellen Fotografie für Magazine und Werbung war die Amateurfotografie fest etabliert, aber für die künstlerische Fotografie im engeren Sinne interessierten sich lediglich einige Spezialisten. Bildbände und Monografien, wie sie heute en masse vom Buchhandel angeboten werden, gab es nur wenige. Das Engagement der Wildes war deshalb in mancherlei Hinsicht Pionierarbeit, auch wenn sie damit nicht gänzlich alleine standen, da einige Museen seit den 70er Jahren ebenfalls mit dem Aufbau fotografischer Sammlungen begonnen hatten. Die fünfte Documenta mit dem programmatischen Titel Befragung der Realität – Bildwelten heute spielte 1972 als Motor eine wichtige Rolle, ebenso die nachfolgende Medien-Documenta. Einerseits fand nun eine systematische Aufarbeitung der Geschichte der Fotografie statt, anderseits hatte die radikale Öffnung des Kunstbegriffs seit den Sechzigern den Boden bereitet für neue Formen wie etwa Serielles und Konzeptionelles. Die Sammlung Wilde spiegelt ein Stück dieser Entwicklung wider, Vollständigkeit wurde dabei nie angestrebt. Stets blieb es eine subjektive Zusammenstellung herausragender Fotografien bzw. Werkgruppen.

Als deutlichster Ausdruck des neuen Verständnisses von Fotografie darf zur Zeit der Gründung der Galerie das Auftauchen des Fotografen bzw. der Fotografin aus den Kulissen angesehen werden. Noch in den 50er und 60er Jahren waren Ausstellungen, die sich dem fotografischen Bild widmeten, dadurch gekennzeichnet, dass die Akteure hinter der Kamera meist gar nicht oder nur selten genannt wurden. Die beliebige Reproduzierbarkeit einer Fotografie ließ, offenbar in Adaption Benjamins Gedanken vom Auraverlust des technischen Bildes, die hinter diesem stehende subjektive Gestaltungskraft uninteressant erscheinen oder gar obsolet werden. Fotografie galt als ein technisches Medium, das dokumentarische Zwecke erfüllt und dadurch als kunstneutrale Angelegenheit, jedoch eben nicht als auratische Ausdrucksform eines Künstlers bzw. einer Künstlerin gesehen wurde. Trotz der Subjektiven Fotografie der 50er Jahre mussten deshalb auch die Werke der Neuen Sachlichkeit, des fotografischen Surrealismus sowie der übrigen Experimente der Zwanziger Jahre als Ausdruck künstlerischen Schaffens erst wieder neu gewürdigt werden. Die Nazijahre hatten hier im Übrigen eine nachwirkende Rezeptionslücke hinterlassen.

Inka Graeve identifiziert in der Sammlung Wilde vier Schwerpunkte: Zunächst ist da die Neusachliche Fotografie der 20er und 30er Jahre, insbesondere repräsentiert durch Karl Blossfeldt, August Sander, Albert Renger-Patzsch, Aenne Biermann und Alfred Ehrhardt. Hinzu kommen die Straßenfotografien jener Jahre von Friedrich Seidenstücker. Einen zweiten Schwerpunkt bilden die Fotografien der gleichen Zeit aus Paris. Germaine Krull, André Kertész und Man Ray verbinden Neusachliches mit Surrealem und Mysteriösem. Den dritten Schwerpunkt der Sammlung stellt die amerikanische Fotografie der 70er Jahre dar. Duane Michals, Ralph Gibson und Les Krims sind Namen einer eher avantgardistisch orientierten Richtung, hinzu kommen vordergründig dokumentarisch arbeitende Fotografen wie Lee Friedlander, Bevan Davies oder David Hockney. Den vierten Schwerpunkt der Sammlung bildet die westdeutsche Fotografie der 70er und 80er Jahre, herausragend dabei die seriellen Arbeiten von Bernd und Hilla Becher sowie die Straßenfotografien von Gabriele und Helmut Nothhelfer.

Aus heutiger Sicht fällt auf, dass die Originale der in Mechanismus und Ausdruck gezeigten Fotografien ausnahmslos kleinere Formate aufweisen. Uns heute vertraute großformatige Werke etwa der Gurskys, Struths oder auch Tillmans gab es im vergangenen Jahrhundert so gut wie nicht. Formate von 50 x 60 cm waren eine deutliche Obergrenze, vieles lag deutlich darunter. Abgesehen von gewissen technischen Beschränkungen war der Ansatz Wirkung durch Größe kein beherrschendes Thema. In der heutigen Zeit hingegen mögen da Regeln des Kunstbetriebes eine Rolle spielen, die auf singuläre Charakteristika setzen. Man legt Wert auf eine Differenz zu dem, was viele andere ebenso können, und allein die Produktionsbedingungen der großen Formate sichern eine gewisse Exklusivität. Das sind übliche Mechanismen der Warengesellschaft, von der auch die Kunsthandelsbetriebsamkeit nicht frei ist.

Die Werke der Sammlung Wilde heben sich wohltuend von diesem auf Bombastik setzenden Paradigma ab. Stattdessen sind subtilere fotografische Leitorientierungen erkennbar. Quer zur oben genannten Kategorisierung von Inka Graeve lassen sich die Fotografien formell in zwei Ansätze unterteilen. Einmal ist da die raumorientierte Gestaltung der klassischen Dokumentarfotografie, die den Wirklichkeitsbezug des Bildes einschließlich der Fiktion dreier Dimensionen betont. Daneben gibt es das zweidimensional orientierte, häufig abstrakten Strukturen folgende Gestaltungsprinzip, das sich von der Identifizierbarkeit der abgebildeten Gegenstände befreit hat und der Phantasie des Betrachters Vorrang einräumt. Der Haupttitel des Buches, Mechanismus und Ausdruck, scheint in gewisser Weise diese beiden Gestaltungsformen zu verkörpern. Fotografie kann sowohl mechanische Abbildung sein wie freie künstlerische Gestaltung.

Die beiden Paradigmen Raum und Fläche gehen bis in die 20er Jahre zurück, sind aber darüber hinaus immer wirksam geblieben und werden auch für die Zukunft der Fotografie grundlegende fotografische Orientierungsgrößen darstellen. Natürlich gibt es Zwischenformen, ebenso Fotografinnen und Fotografen, die, je nach angestrebter Bildwirkung, prioritär mal das eine oder das andere Prinzip zugrunde legen. Dies wird bei Klassikern wie Renger-Patzsch, Kertész oder Germaine Krull deutlich. Bei jüngeren Fotografien, die konzeptionellen oder avantgardistischen Sichtweisen folgen, lässt sich mitunter eine Zuordnung nur schwer treffen. In der Sammlung Wilde gehören Ralph Gibson, Lee Friedlander oder David Hockney zu dieser Gruppe, aber auch bei den Bechers ist dies spürbar. Die serielle Aneinanderreihung von Fördertürmen lässt sich, neben dem dokumentarischen Aspekt, ebenso als abstrakte Formgestaltung begreifen. Andere aus der Sammlung Wilde sind da eindeutiger: August Sander, Friedrich Seidenstücker, Les Krims, Tony Ray-Jones oder Gabriele und Helmut Nothhelfer verstanden ihre im weiteren Sinne dokumentarischen Aufnahmen als Abbildungen, meist von Menschen, in einer konkreten räumlichen Situation. El Lissitzky, Max Ernst, Aenne Biermann, Man Ray und Alfred Ehrhardt haben die Werke hingegen vorwiegend flächig, oftmals abstrakt angelegt und entlang entsprechender Gestaltungsregeln komponiert.

Die Sammlung Wilde, so das Fazit der Lektüre des in Leipzig erstandenen Buches, lädt auf wunderbare Weise zum Studium einiger wichtiger fotografischer Paradigmen des 20. Jahrhunderts ein. Einmal mehr wird deutlich, dass es dafür keiner musealen Vollständigkeit bedarf. Die Werke der Sammlung zeigen exemplarisch, wie im analogen Zeitalter gedacht und fotografisch gesehen wurde. Sicher, da gäbe es noch mehr zu nennen, aber der subjektive Sammlerblick der Wildes hat etwas ungemein Sympathisches. Die Entdeckung des Buches war ein Glücksgriff.

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