Der Mauerläufer

Ein älterer, weißhaariger Mann auf der Berliner Mauer. Vorsichtig, Schritt für Schritt, tastet er sich voran. Es ist im August 1986, als der 68jährige kanadische Friedensaktivist John Runnings anlässlich des 25. Jahres des Mauerbaus am Potsdamer Platz auf das nahezu vier Meter hohe Ungetüm steigt und auf ihm mehrere hundert Meter auf den Übergang Checkpoint Charlie zusteuert. Für die einen war es eine mutige Aktion, für andere eine Provokation. Für manche auch nur ein interessantes Sommerereignis.

Vom Potsdamer Platz verlief die Mauer einstmals in Richtung Köthener und Stresemannstraße, anschließend zwischen dem ehemaligen Preußischen Landtag, nun Sitz des Abgeordnetenhauses von Berlin, und dem Martin-Gropius-Bau, um dann die Wilhelmstraße zu kreuzen und auf der Zimmerstraße bis zur Friedrichstraße zu führen. Genau dieses geschichtsträchtige Teilstück der Mauer hatte John Runnings für seine Aktion ausgewählt.

1986, das Jahr des XI. Parteitags der SED, der Stabilität zum Ausdruck bringen sollte. Und die Volkskammerwahlen in der DDR bestätigten, wie vorgesehen, die Staatsführung. Zuvor hatte Michael Gorbatschow in der Sowjetunion zur kritischen Betrachtung des eigenen Systems aufgerufen und Abrüstungsvorschläge unterbreitet. Bereits Anfang des Jahres war Joseph Beuys gestorben, im gleichen Monat explodierte kurz nach dem Start die amerikanische Räumfähre Challenger. Im Februar wurde in Stockholm Olof Palme ermordet. Im April dann der Super-GAU im Atomkraftwerk Tschernobyl. In der DDR nahm im gleichen Jahr das Jugendradio DT 64 seine Sendungen auf. In West-Berlin wurde im Schloss Charlottenburg die Ausstellung Friedrich der Große eröffnet. Aus heutiger Perspektive ein Jahr einschneidender Ereignisse, aber auch eines mit Dingen, wie sie irgendwie immer geschehen.

Damals erschien es wie ein zwiespältiges Jahr der Nachkriegsgeschichte, das noch nicht unbedingt auf Veränderungen hindeutete. Und dennoch, es lag etwas in der Luft, das nicht mehr zu einer Fortsetzung des Gewohnten passen wollte. Die Aktion von John Runnings, der die Mauer zunächst symbolisch mit einem Vorschlaghammer bearbeitete, war da nur ein Puzzlesteinchen, aber sie war Symptom für die Ausbreitung wachsenden Unbehagens gegenüber dem politisch festgefahrenen status quo.

Runnings wurde von der DDR-Justiz, nachdem man ihn von der Mauer geholt hatte, nicht ohne dass er dies zuvor zu einem Statement an die Zuschauer auf der Westseite der Betonwand nutzte, zu einer Haftstrafe verurteilt, nach einigen Wochen jedoch freigelassen und abgeschoben. Seinen Protest gegen die Mauer setzte er später mit anderen, wenn auch weniger spektakulären Mitteln fort. Das schon damals dem Untergang geweihte Betonungetüm hielt im Übrigen nur noch etwas länger als drei Jahre. John Runnings Aktion hatte, so gesehen, etwas konkret Visionäres.

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