Chamissos Schatten und die Ketten der Sklaverei

Am 21. August 1838 starb in Berlin der Dichter und Gelehrte Adelbert von Chamisso. Er hinterließ ein Werk, das den Bogen spannt von romantischen Naturschilderungen über ethnologische Studien bis hin zu sozialkritischen Beiträgen zu Erscheinungen seiner Zeit. Heute, mitunter ein wenig unterschätzt, darf man ihn zu den Zeugen einer aufklärenden Literatur zählen, dem Kunst und Zeitdiagnose nicht als widerstrebende Diskursformen galten, sondern als geschwisterliche Erscheinungen eines epochalen Emanzipationsprojektes.

Grabstätte Chamisso, Berlin

Chamisso verstarb in genau jenem Jahr, in dem ein französischer Theatermaler und Erfinder verkündete, seine mit Hilfe chemischer Prozesse hergestellten mechanischen Bilder von nun an Daguerreotypien zu nennen. Louis Daguerre hatte sich etwa seit 1824, parallel zu den Versuchen Joseph Nicéphore Niépces, mit der Frage befasst, wie sich die flüchtigen Bilder einer Camera obscura dauerhaft fixieren ließen. Die Lösung benötigte noch Jahre, bis schließlich das neue Verfahren 1839 höchst offiziell der französischen Akademie der Wissenschaften vorgestellt werden konnte. Die Fotografie war geboren. Zu deren Vorläuferpraktiken zählen jedoch nicht nur die Camera obscura und die Laterna magica, sondern ebenso die Techniken des Scherenschnitts und des Schattenrisses. Im fotosinn Essay Philosophisches vom Schatten ist das näher beleuchtet worden. Als Überblick ist im Übrigen die Dissertation Umrissene Schatten, geschnittene Flächen. Scherenschnitte und Schattenrisse seit dem 17. Jahrhundert von Natalja Mischenin-Blaschke zu empfehlen.

Peter Schlemihls wundersame Geschichte erschien 1814. Chamisso erzählt hier von einem Mann, der seinen Schatten für ein Säckchen Gold an den Teufel verkauft. Bald schon jedoch muss er feststellen, dass ihm, dem Schattenlosen, nun von seinem Umfeld mit unheimlicher Ächtung begegnet wird. Rastlos und unglücklich verbringt er den Rest des Lebens als umherstreifender Naturforscher. Der Pakt mit dem Teufel hat seinen Tribut gefordert.

Die Veröffentlichung des Schlemihl erfolgte in vorfotografischer Zeit. Chamisso konnte lediglich Schattenspieltechniken sowie den damals weit verbreiteten Scherenschnitt vor Augen gehabt haben. Mit ihnen wurden physiognomische Besonderheiten hervorgehoben, um das äußerlich Individuelle einer Person kenntlich zu machen. Dem armen Schlemihl war nach seinem Tauschgeschäft genau dies versagt. Entsprechend der im ausgehenden 18. Jahrhundert einflussreichen Physiognomik Johann Caspar Lavaters ließ sich vom Schattenumriss auf den Charakter und die Seele eines Menschen schließen. Ohne Schatten war Schlemihl deshalb zu einem Nichts geworden.

Bei Chamissos Erzählung handelt es sich um einen transitorischen bzw. Schwellentext, der, rückblickend betrachtet, die etablierten Bildtechniken zum impliziten Hintergrund hatte und gleichzeitig auf subkutane Weise die Idee des künftigen fotografischen Projektes erahnen ließ. Mit Hilfe von Licht und Schatten sollte, so die Hoffnung, eines Tages die unmittelbare, naturgetreue Fixierung des Realen möglich werden. Schon das Ziel der Vorgängertechniken hatte in der möglichst hohen Genauigkeit und damit Authentizität der Abbildung bestanden. Letztlich ging es um Glaubwürdigkeit. Diese sowie die Schnelligkeit der Bildherstellung zu erhöhen, lag zur Zeit der Entstehung des Schlemihl intentional in der Luft. Die sich ankündigende Fotografie wurde paradigmatisch vorbereitet. Letztlich musste nur noch die entscheidende Hürde von der mechanischen zur chemischen Abbilderstellung genommen werden. Aber soweit war man 1814 noch nicht.

Adelbert von Chamisso war nicht nur Dichter, sondern Weltreisender, Naturforscher und stets an wissenschaftlichen Neuerungen interessiert. So führte er einen Briefwechsel mit dem ebenfalls universell gebildeten William Henry Fox Talbot, mit dem er 1827 auch zusammentraf. Zu jener Zeit war Talbot mit Forschungen zu verschiedenen optischen Phänomenen befasst, die in den dreißiger Jahren, parallel zu Daguerre, zu ersten fotografischen Ergebnissen führen sollten. Die Vermutung liegt nahe, dass Licht und Schatten als Grundelemente eines jeglichen Bildes auch Bestandteile des Gesprächs von Chamisso und Talbot im Jahr 1827 gewesen sein könnten. Aber wir wissen es nicht. Was Talbot zu diesem Zeitpunkt allerdings mit Sicherheit nicht ahnen konnte, war seine spätere Erfindung der Negativtechnik, mit der im Unterschied zu den Unikaten der Daguerreotypie von einem Original beliebig viele Abzüge angefertigt werden konnten. Aus heutiger Sicht darf dies als der eigentliche Durchbruch zur analogen Fotografie gelten, die über mehrere Entwicklungsschritte bis zum Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts den Standard definierte. Aber schon Talbot war, berechtigterweise, überzeugt von der revolutionären Technik.

Sein berühmt gewordener Bildband The Pencil of Nature erschien zwischen 1844 und 1846 in mehreren Ausgaben. Er zeigt Aufnahmen unterschiedlicher Genres, die mit dem neuen Verfahren angefertigt worden waren. Bemerkenswert, dass Talbot offenbar zunächst daran gedacht hatte, das Buch The Art of Shadow zu nennen, aber die Assoziationen zur etablierten Zeichnung mit dem Stift waren hinsichtlich der Rezeptionsgewohnheiten des Publikums wohl zu verlockend. Gleichwohl, der Topos vom fotografischen Zeichnen mit Licht sollte sich bis in das Zwanzigste Jahrhundert erhalten. Wir finden ihn in adaptierter Form etwa bei Laszlo Moholy-Nagy.

Die Positivtechnik Daguerres kam trotz der neuen Möglichkeiten vorerst weiter zur Anwendung. Ikonisch gewordene Portraits Abraham Lincolns aus den 1860er Jahren belegen dies. Den endgültigen Durchbruch erlangte Talbots Verfahren gleichwohl in genau diesem Jahrzehnt. Der Fortschritt der fotografischen Technik war durch eine rasante Entwicklungsdynamik bestimmt, insbesondere hinsichtlich der Erhöhung ihrer Schnelligkeit. Schon im amerikanischen Sezessionskrieg wurde sie deshalb von Fotografen wie Alexander Gardner im freien Feld eingesetzt. Es war der erste Krieg in der Geschichte der Menschheit, der zeitnah medial begleitet wurde. Die neue Fotografie hatte das Atelier verlassen und konfrontierte die Betrachter nun jenseits inszenierter Scheinwahrheiten mit der ungeschminkten Wirklichkeit des Geschehens. Bilder von den Schlachtfeldern bei Gettysburg oder Petersburg mit grauenhaften Mengen toter Soldaten machten insbesondere den Anhängern der Konföderierten deutlich, dass mit einem Sieg über die Unionisten kaum noch zu rechnen war. Das Medium selbst war zur Botschaft geworden. Es handelte sich damit um die Geburt der modernen Dokumentarfotografie, auch wenn sich die damals noch immer langen Belichtungszeiten nicht mit denen der modernen Reportagefotografie vergleichen lassen.

Im amerikanischen Bürgerkrieg ging es um nichts anderes als die Zukunft der Sklaverei. Die reichen Plantagenbesitzer der Südstaaten führten einen letzten Kampf um die Absicherung der weiß-schwarzen Ausbeutungsrealität. Den Krieg haben sie verloren, die Sklaverei wurde 1865 durch den 13. Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung abgeschafft, und dennoch wurden in der Folgezeit neue Mechanismen zur Aufrechterhaltung der Rassentrennung installiert. Bis in die Zeit der Bürgerrechtsbewegung der 50er und 60er Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts sollten sich solche Regelungen halten. Diese mögen nun offiziell verschwunden sein, aber dennoch zeigt sich bis heute ein System struktureller Ungleichheiten, dessen Logik weiterhin rassistisch definiert ist. In Diese Wahrheiten. Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika wird von Jill Lepore der Weg von der frühen Kolonialisierung durch die europäischen Eroberer über den Unabhängigkeitskrieg gegen England, den traumatisierenden Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert bis hin zu den Realitäten der Gegenwart nachgezeichnet. Weiß-schwarzer Rassismus erweist sich als ein wiederkehrender Bestandteil dieser Entwicklungslinie.

Adalbert von Chamisso übrigens sah sich auf seiner Weltreise mit der Wirklichkeit der Sklaverei konfrontiert. Diese veranlasste ihn zu dem bitterbösen Gedicht Der Neger und die Marionetten, das in seinem abgründigen Sarkasmus nur noch übertroffen wird von dem einige Jahre später entstandenen Das Sklavenschiff Heinrich Heines.

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Und die Schlossherren schweigen

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