Alec Soth - Storytelling in den Deichtorhallen

Von einer höchst empfehlenswerten Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen ist zu berichten, eigentlich sogar einer Doppelausstellung. Einmal ist der Fotograf Peter Bialobrzeski mit Die zweite Heimat vertreten und dann der herausragende Alec Soth mit Gathered Leaves. Die Deichtorhallen zeigen hiermit einmal mehr, dass sie zur ersten Adresse der auf Fotografie spezialisierten Ausstellungsorte gehören.

Zwischen 2011 und 2016 reiste Peter Bialobrzeski durch das Land, um eine Bestandsaufnahme der Republik vorzunehmen. Von den dabei entstandenen 30 000 Aufnahmen sind einige ausgewählte in der Ausstellung zu sehen. Sicher können diese nicht den Anspruch auf Repräsentativität bezüglich der bundesdeutschen Gesellschaft erheben. Dazu ist diese zu heterogen, regional spezifisch und multikulturell. Auch ist das Land durch die in der Ausstellung gezeigten menschenleeren Stadtansichten natürlich nur selektiv beschrieben. Aber das sind keine Einwände gegen die Fotografien Bialobrzeskis. Ganz im Gegenteil, die sorgsam durchkomponierten Großformataufnahmen beeindrucken durch ihre nüchterne Kargheit, und selbst wenn man solche Fotografien in sauber ausgerichteter Frontalansicht vom Typus Reihenhaus mit Garage und ordentlicher Hecke schon häufiger gesehen hat, machen sie in ihrer Konsequenz Sinn. Ja, und für viele ist das dann auch Heimat.

Den zweiten Teil der Doppelausstellung sollte man sich auf keinen Fall entgehen lassen. Alec Soth, einer der herausragenden Gegenwartsfotografen und Dokumentarist der amerikanischen Psyche, zeigt mit Gathered Leaves sein ganzes Können. Wobei damit, genau genommen, sowohl die in den Deichtorhallen präsentierten Fotografien aus seinen wichtigsten Projekte seit 2004 gemeint sind wie auch die hierbei entstandenen vier Buchpublikationen und darüber hinaus, wiederum ein eigenständiges Kunstwerk bildend, eine Box mit Mini-Faksimiles der Bücher und mehreren Fotografien.

In Sleeping by the Mississippi (2004), Niagara (2006), Broken Manual (2010) und Songbook (2014) hat Alec Soth das Ergebnis seiner Reisen durch die weniger besuchten Teile der USA, den Flyover States, dokumentiert. Er zeigt dabei ein Land in ökonomischer Stagnation, verbunden mit einem tief eingewurzelten Impuls zur Behauptung des Rechts auf die eigene Lebensgestaltung, wobei nebenbei auch Exzentrisches und Fetischistisches erkennbar wird. Um dies fotografisch festzuhalten, muss man den Menschen zuhören können und sie ihre Geschichten erzählen lassen. Alec Soth, der auch als Fotojournalist für Magnum arbeitet, kann das ganz offensichtlich.

Sleeping by the Mississippi folgt in einer Reise durch den Süden der Vereinigten Staaten den Mythologien des Flusses und der Landschaft, insbesondere jedoch dem Leben der Menschen und dem ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen unter schwierigen Bedingungen des Durchhaltens und einer trotzig aufrecht erhaltenen Hoffnung. Die hierbei entstandenen Fotografien lassen sich mit Robert Franks The Americans von 1958 vergleichen, die ebenfalls den dokumentarischen Stil mit einer subjektiven, poetischen Bildsprache verbanden. Dabei werden, von Frank ebenso wie von Soth, die Abgebildeten niemals in irgendeiner Weise vorgeführt oder diskreditiert, sondern ausnahmslos respektvoll behandelt. Entstanden ist so eine Quintessenz des Lebens in der Mitte der USA zwischen den glamourösen Ost- und Westküsten, ohne aggressive Ideologie, gleich welcher Art, dafür mit der Erinnerung daran, dass Hoffnung und Furcht, Verlangen und Bedauern in jedem von uns stecken.

Die Fotografien aus der Serie und dem gleichnamigen Buch Niagara zeigen nicht nur die Honeymoon-Seite der Gegend um das Naturschauspiel im Nordosten der Vereinigten Staaten mit seiner gewaltigen Anziehungskraft für Verliebte, sondern ergänzen dies um den Hinweis, dass es sich auch um einen Ort mit zahlreichen spektakulären Selbsttötungen handelt. So ist Niagara gleichermaßen Symbol für die Liebe wie für alle, die den Glauben an sie verloren haben. Liebesbriefe wie eben auch Abschiedszeilen zeugen von diesem doppelten Charakter des Ortes. Wer sich in der Ausstellung eingehend mit den Fotografien und Texten befasst, was sehr zu empfehlen ist, oder wer dies anhand des Buches tut, wird tief berührt sein von dem, was Alec Soth hier mit der Kamera zusammengetragen hat.

Das Projekt Broken Manual, in dem es um den Ausstieg aus dem bürgerlichen Leben und das selbstgewählte Eremitendasein geht, führt ein zusätzliches Gestaltungselement ein. Der Text ist hier nicht nur begleitender Essay, sondern wird unmittelbar zum Teil des Werkes. In der Buchversion wird dies besonders deutlich. Ein Autor, der sich selbst mit dem Pseudonym Lester B. Morrison vorstellt, man darf auf ein Alter Ego von Alec Soth tippen, ergänzt die Fotografien um Ratschläge, wie man den Bruch mit der Gesellschaft und den praktischen Schritt in die selbstgewählte Einsamkeit umsetzen kann. Aber die Texte wollen nichts erklären und schon gar nicht die Fotografien beschreiben. Diese sprechen für sich selbst und zeigen Einsiedler, Sonderlinge und Survivalfreunde, ausschließlich weiße Männer, die in der Wüste, in Baumhäusern, Höhlen oder ausrangierten Bussen leben und nur noch rudimentäre Beziehungen zu der übrigen Welt aufrecht erhalten. Das sieht hier und dort durchaus nach Harmonie und rousseauhafter Naturverbundenheit aus. Beim näheren Betrachten der Aufnahmen bestätigt sich jedoch nicht wirklich das Gefühl, dass es sich um das große Glück handelt. Sind es am Ende doch eher Flüchtlinge, die von der eigenen Psyche gezwungen wurden, sich vor der Gesellschaft zu verstecken? Man mag diesen Eindruck bekommen, aber Alec Soth lässt es offen. Er romantisiert nichts, maßt sich aber auch nicht an, die Menschen als kaputte Typen oder Freaks darzustellen. Bei den eingestreuten Texten von Lester B. Morrison vermeint man zwar, hin und wieder eine Spur Ironie zu vernehmen, etwa wenn er empfiehlt, auf die Rasur zu verzichten, um keine DNA-Spuren zu hinterlassen, aber die Kuriosität mancher Ratschläge korrespondiert am Ende wohl doch eher mit dem nonkonformistischen Denken der Aussteiger, als dass sie einen Bruch zwischen Text und Bild verkörpern. Ganz im Gegenteil, das Projekt Broken Manual bildet eine außergewöhnliche Einheit zwischen beiden Zeichenformen.

Die letzte der vier Serien trägt den Namen Songbook. Alec Soth und der Schriftsteller Brad Zellar haben drei Jahre lang auf der Suche nach Stories für eine fiktive Tageszeitung die Rollen von Reportern eingenommen und das Land durchquert. Ergebnis sind fotografische Berichte über das amerikanische Kleinstadtleben, die durch einige kurze Liedzeilen aus dem Great American Songbook ergänzt werden. Dieses Standardwerk der Populärmusik enthält eine Reihe der fast jedem bekannten Kompositionen von Roger und Hammerstein, Cole Porter oder Irving Berlin, überwiegend aus den dreißiger bis sechziger Jahren vor der Zeit des Rock`n Blues der Supergruppen. So wirken auch die Fotografien. Alles kommt einem irgendwie vertraut vor, als würde man eine etwas altmodische Melodie, nahezu unbewusst, mitsummen. Da steckt Nostalgie drin, aber auch ein latentes Gespür, dass es eine zu Ende gehende Zeit ist, die hier noch einmal festgehalten wird. Die Sorge um den sozialen Niedergang von Teilen der Mittelschicht und die Furcht vor der Einsamkeit inmitten der Menge vermischen sich mit den sentimentalen Erinnerungen an die vordigitale Kultur zu einer bittersüßen Melange, die in den Schwarzweißbildern einen lyrischen Niederschlag findet. Wir erkennen zwar nicht bei allen Fotografien, was sie eigentlich abbilden oder bedeuten, aber sie formen, zusammen genommen, eine in sich schlüssige Melodie.

Gathered Leaves ist eine herausragende Ausstellung, und die vier parallelen Fotobücher zeigen, zu was Storytelling in der Lage ist. Jeder der Bildbände ist ein eigenständiges Kunstwerk, das mehr beinhaltet als nur die Reproduktion von Fotografien. Darüber hinaus gibt es mit dem Namen Gathered Leaves auch eine Box mit verkleinerten Faksimiles dieser vier Bücher. Ergänzt werden sie durch 28 einzelne Fotografien mit Schlüsselaufnahmen der Bildbände in hervorragender Druckqualität. Auf deren Rückseiten sind Anmerkungen zur Philosophie der Fotografie von Alec Soth und anderen Autoren notiert. Die Texte in den Mini-Faksimiles sind zwar nur mit einer Lupe lesbar, aber man hat dennoch das Gefühl, mit der Box etwas ganz Besonderes vor sich zu haben. Das erinnert an Marcel Duchamps Boite-en-valise von 1935, ebenfalls eine Zusammenstellung miniaturisierter Kunstwerke in einem Karton.

Alec Soth hat einmal darauf hingewiesen, dass es gar nicht so schwer sei, großartige Einzelfotografien zu schaffen. Wirklich herausfordernd sei hingegen deren Zusammenstellung zu einem in sich schlüssigen Gesamtwerk. Das ist bei Gathered Leaves sowohl in den thematischen Serien wie auch mit der Box uneingeschränkt gelungen.

Die Doppelausstellung mit den Fotografien von Peter Bialobrzeski und Alec Soth ist in den Hamburger Deichtorhallen noch bis zum 7. Januar 2018 zu sehen. Die Box mit den Mini-Faksimiles der Bücher von Alec Soth und den 28 Fotografien ist bei MACK erschienen.

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Jenseits des urbanen Blicks