Fragmente zu den Sieben Todsünden

Handelt es sich um einen mittelalterlichen Mummenschanz, der dem heutigen Menschen nichts mehr zu sagen hat? Oder weist das Konstrukt der Sieben Todsünden auf Verhaltensnormen hin, die nicht zufällig auf ähnliche Weise auch in Kulturen anderer Epochen zu finden waren? In der säkularen Moderne werden die Regeln mitunter als Gespinste abgetan. Vielleicht ist das ein wenig zu kurz gedacht.

Ein Konzept in Bewegung

Befreit man das Konstrukt aus der ursprünglichen Sprache, verzichtet insbesondere auf den Kernbegriff der Todsünde im wörtlichen Sinne und ersetzt alles durch zeitgemäße Begrifflichkeiten, werden Sichtweisen auf Herausforderungen und potentielle Regulierungsnormen des Sozialen eröffnet, über deren Berechtigung sich auch heute, selbst losgelöst von Glaubensfragen, produktiv streiten lässt.

Vor dem Diskurs steht die umkreisende Annäherung. Was meinen Superbia (Hochmut), Invidia (Neid), Acedia (Trägheit), Avaritia (Geiz), Ira (Zorn), Gula (Maßlosigkeit) und Luxuria (Ausschweifung) eigentlich?

Auffassungen früherer Epochen verbinden sich bei einer Antwort mit Assoziationen unserer Tage zu einem Bild, das Unschärfen in Kauf nimmt. Wie beim impressionistischen Gemälde muss der Betrachtende einen Schritt zurücktreten, um unter Vernachlässigung von Details das Ganze zu erfassen. Erst dann wird die Botschaft deutlich. Bezogen auf die Sieben Todsünden ist es die Erkenntnis, dass jede Gesellschaft neben zeittypischen Normen und wandelbaren kulturellen Gepflogenheiten einen Kern von relativ stabilen Verhaltensimperativen aufweist, deren konkrete Ausprägung sich auf der Oberfläche zwar in Nuancen unterscheidet. Die tieferliegenden Funktionen zeigen jedoch eine auffällige Konstanz. Von anthropologischen Mustern zu sprechen, ginge sicher zu weit. Und dennoch, alle sozialen Gemeinschaften sind auf Verlässlichkeit angewiesen, die Stabilität bietet und die potentielle Kontingenz der Welterfahrung eindämmt. Dies bedeutet nicht, dass jeder der sieben Regeln eine ewig geltende Bedeutung zukommt. Ganz im Gegenteil. Es geht um die Prüfung ihrer zeitgemäßen Angemessenheit. Dies kann zu einem negativen Ergebnis führen. Aber eben auch zu einem positiven.

Es ist kein Zufall, dass sich Künstlerinnen und Künstler von Hieronymus Bosch und Brueghel bis zu Otto Dix oder Kurt Weill mit dem Konzept der Sieben Todsünden befasst haben. Frei vom Zwang zu theoretisierenden Interpretationen, bei denen die rationale Analyse so sehr im Vordergrund steht, dass kaum noch etwas von den mythologischen Ursprüngen wahrzunehmen ist, vermag Kunst in Tiefenschichten vorzudringen, bei denen es nicht mehr um Begründungen im aufgeklärten Sinne geht, sehr wohl aber um gespürte Evidenzen. Zugegeben, dies ist ein heikles Feld mit Abgründen und Absturzgefahren. Gleichwohl soll hier der vorsichtige Versuch unternommen werden, verschiedene Zugangswege zum Verständnis des Konzeptes der Sieben Todsünden zu eröffnen, die zwar fragmentarisch bleiben müssen, jedoch wie beim Puzzle ein sich nach und nach abzeichnendes Bild entstehen lassen. Assoziative, theoretische und literarische Formen wechseln sich dabei ab. Sieben mal sieben Fotografien bieten zusätzliche Impulse. Endgültige Antworten sind aber nicht zu erwarten.

***

Hochmut

Abwärtsbewegung, extrem, im freien Niedergang. Kontrollverlust durch Gravitation. An Geltung verlieren, sinkende Werte. Stürzen, abstürzen, abnehmen, umkommen, verrecken. Von der Leiter. Aktien. Im Krieg. Aus allen Himmeln, allen Wolken, auf den Wecker, ins Auge, wie eine heiße Kartoffel in den Schoß. Apfel, nicht weit vom Stamm. Kopfüber. Kurse. Preise. Drastisch, massiv und plötzlich. Auseinander, lästig, leicht, schwer. Beil. Strick. Tür. Wind. Ab, an, auf, aus, be, durch, ein, entfallen. Hochmut. Fallsucht.

Den festen Halt, das Gleichgewicht verlieren und mit dem Körper auf den Boden geraten. (Duden)

Stolz kommt vor dem Untergang und hochmütiger Sinn vor dem Fall. (Bibel)

Neid

Ein Gedanke, der einfach nicht verschwinden will. Wie Eiter frisst sich das grüne Zeug durch die Zellen. Mal schmerzt es, dann tagelang Frieden. Alles wieder gut. Jedoch, die Ruhe täuscht. Am Ende erreicht die Plage auch den letzten Winkel des Hirns und des sorgsam gepflegten Leibes. Invidia bestimmt fortan den Tag, den folgenden Tag und alle Tage danach. Will das haben! Brauche es unbedingt! Warum andere und nicht ich?

Wir denken selten an das, was wir haben, aber immer an das, was uns fehlt. (Schopenhauer)

Es stimmt, dass Geld nicht glücklich macht. Allerdings meint man damit das Geld der anderen. (George Bernhard Shaw)

Keine Leidenschaft ist für die Seele des Menschen verderblicher als der Neid, der zwar andere sehr wenig betrübt, aber für den, der damit behaftet ist, das größte, eigentlich das Grundübel ist. Denn wie der Rost das Eisen, so verzehrt der Neid die Seele, die mit ihm behaftet ist. (Basilius von Caesarea)

Trägheit

Die träge Masse liegt in den Kissen und harrt der Dinge, die da kommen. Kommt nichts, geschieht nichts. Schon der Versuch des Versuchs, sich zu erheben, längst aufgegeben. Totale Entspannung, alles flimmert so schön. Equilibrium der Sensoren. Alles gut so! Keine Empörung mehr über die Dinge der Welt. Eros? Längst vergessen. Thanatos? Why not, ist doch egal. Wo sind sie hin, die Gedanken, Pläne, Träume? Vergessen und verplempert, abgeschliffen in den Jahren und zu Sand zermahlen.

Mancherlei hast du versäumet:
Statt zu handeln, hast geträumet,
Statt zu danken, hast geschwiegen,
Solltest wandern, bliebest liegen. (Goethe)

Geiz

Ihr sollt es einmal besser haben als wir. Deshalb seid sparsam, damit Ihr etwas habt in der Not. Nur wer den Cent ehrt, dem wird Reichtum beschert. Hütet Euch vor nutzlosen Dingen. Nie vergessen: Ein nicht ausgegebener Euro sind schon zwei Euro. Bringt das Geld zur Bank, um es vor Euch selbst zu schützen. Erst viele Federn machen ein schönes Bett. Ich werde eines Tages mein Leben glücklich beschließen können, wenn ich sicher sein darf, dass Ihr dies verstanden habt.

Was aber der Geiz im Greisenalter bedeuten soll, sehe ich nicht ein. Kann es denn wohl etwas Ungereimteres geben, als je weniger Weg noch übrig ist, noch desto mehr Reisegeld zu suchen? (Marcus Tullius Cicero)

Wie einer nackt von seiner Mutter Leibe gekommen ist, so fährt er wieder dahin, wie er gekommen ist, und trotz seiner Mühe nimmt er nichts mit sich in seiner Hand, wenn er dahinfährt. (Bibel)

Geizhälse sind die Plage ihrer Zeitgenossen, aber das Entzücken ihrer Erben. (Theodor Fontane)

Ein Geiziger kann nichts Nützlicheres und Besseres tun, als wenn er stirbt. (Martin Luther)

Zorn

Am Anfang ein leichtes Zerren, ganz tief, eher ein Grollen. Vielleicht ja nur Einbildung. War da wirklich etwas? Dann noch einmal. Nervenzucken? Nein, nein, da ist Tektonik im Spiel. Da wurde etwas verklemmt, verletzt. Hitzeanstieg, der Druck erhöht sich. Sodbrennen im Peridotit. Ignorieren? Einfach abwarten. Oder Gegenmittel einsetzen? Tief durchatmen, Blödsinn, das bringt nichts! Luft gegen Magma, keine Chance. Dafür ist es zu spät. Da will etwas aufbrechen, Vergeltung suchen. Nicht aufzuhalten. Erste Risse.

Es lässt sich nämlich beobachten, dass der Zorn im gewissen Grad auf die Stimme sachlicher Reflexion hinhört, aber sie nicht richtig hört. Es ist wie bei den voreiligen Dienern: Noch ehe sie alles gehört haben, was man ihnen sagt, rennen sie davon und bringen dann den Auftrag durcheinander. (Aristoteles)

Wer hart gegen sich ist, der erkauft sich das Recht, hart auch gegen andere zu sein, und rächt sich für den Schmerz, dessen Regungen er nicht zeigen durfte. (Theodor W. Adorno)

Maßlosigkeit

Dort drüben gibt es noch etwas, hast Du gesehen? Nimm am besten gleich zwei von den Happen, die werden sowieso immer kleiner. Früher wurde man hier schneller satt. Und schau, da kommen uns welche mit kleinen Fläschchen entgegen. Wo haben sie die denn her? Wir müssen ganz nach hinten, zum Ende des Ganges. Drängel mal ein wenig, sonst ist alles weg. Und dann ab in die nächste Halle, sieh mal, das Wappen da mit den Löwen. Dort gibt es sicherlich anständige Portionen. Eine Maß Bier wäre auch nicht schlecht. Bei mir jedenfalls geht noch was rein!

Die Grüne Woche unter dem Berliner Funkturm zählt jährlich etwa vierhunderttausend Besucher. Erste Bilanz der Redaktion fleischwirtschaft.de am vorletzten Tag der Ausstellung 2019: Grüne Woche sorgt für zufriedene Gesichter.

Ausschweifung

Bunga, Bunga, Bungalow. Tralala! Hey, was soll das? Nichts da mit low! Hier geht’s hoch her, wäre doch gelacht. Sex sells und sex for sale, Jahrmarkt für alles und für alle. Nun ja, für fast alle. Umsonst ist nur der Tod. Solange lasst es krachen, bis der letzte Penny futsch ist. Aber keine Sorge, Taler sind genügend da. Kommt her, Ihr Schönen! Wer will noch mal, wer hat noch nicht? Das Leben ist zu kurz, um Trübsal zu blasen. Wir gehen erst, wenn die letzte Flasche reif für den Container ist.

Wem genug zu wenig ist, dem ist nichts genug. (Epikur)

Der Mensch hat eine wahre Wollust darin, sich durch übertriebene Ansprüche zu vergewaltigen und dieses tyrannisch fordernde Etwas in seiner Seele nachher zu vergöttern. (Nietzsche)

Wohlan nun, ihr Reichen, weinet und heulet über euer Elend, das über euch kommen wird! Euer Reichtum ist verfault, eure Kleider sind mottenfräßig geworden. Euer Gold und Silber ist verrostet, und sein Rost wird euch zum Zeugnis sein und wird euer Fleisch fressen wie ein Feuer. ... Ihr habt wohlgelebt auf Erden und eure Wollust gehabt und eure Herzen geweidet am Schlachttag. (Jakobus)

***

Hochmut

Hochmut (Superbia) als erste der Sieben Todsünden ist beteiligt, wenn die eigene Sichtweise auf die Dinge dieser Welt als einzig zulässige auch von anderen erwartet wird. Die Emanzipation von Mythen und starren Weltbildern seit Renaissance und Aufklärung schlägt um in Anmaßung oder gar Totalitarismus, wenn die gewonnene Freiheit exklusiv für das eigene Denken beansprucht wird, für die Übrigen jedoch durch den Zwang zur Übernahme einer vorgegebenen Weltsicht eingeschränkt ist.

Kulturelle Diversität in ihren verschiedenen Erscheinungsformen alltagspraktisch zu respektieren, ist eine der größten Herausforderungen zur Vermeidung hochmütiger Arroganz. Dies bedeutet nicht schrankenlose Liberalität. Und es bedeutet schon gar nicht grenzenlose Handlungsfreiheit. Jede Gesellschaft ist zur Sicherung des Gemeinwesens und der Kommunikationsfähigkeit auf ein Netz von Gesetzen, Konventionen und Sitten angewiesen. Schon bei der Sprache handelt es sich um eine solche Vereinbarung. Der durch sie zur Verfügung gestellte Rahmen markiert darüber hinaus die Grenzen der benennbaren Welt. Wer meint, sich radikal den sozialen Regeln der Gesellschaft entziehen zu können, vergisst, dass er/sie seine/ihre Sprache und damit auch die zur Verfügung stehenden Denkformen nicht selbst erfunden hat, sondern diese auf der Kultur der Vorfahren aufbauen. Eine solche Erkenntnis mag hier und dort Schmerzen verursachen, ändert aber nichts an der Tatsache, dass sich niemand, wie in einem Reagenzglas, autonom aus sich selbst heraus entwickelt hat.

Je nach Modernitätsgrad der Gesellschaft sind subkulturelle Abweichungen innerhalb des Grundrahmens statthaft. Je traditioneller eine Gesellschaft, umso enger die Freiheitsgrade und umso ausgeprägter mythisch abgeleitete Wahrheiten, die vor Reflexion abgeschirmt werden, da sie zu Infragestellungen führen könnte.

Hochmütiges Denken ist dann der Fall, wenn Differenzierungen nicht mehr gelingen oder kein Gehör finden. Wenn nicht nur der rechtliche Rahmen, sondern auch Normen der Alltagskultur für alle verbindlich sind und Regelverletzer mit spontanem, oder auch organisiertem, Zorn zu rechnen haben, werden kollektive Regressionen wahrscheinlich, bei denen die mühsam erarbeitete Liberalität der Kultur zerbricht und frühere Zustände wiederbelebt werden. Diese waren einstmals vom unreflektierten Glauben an die Wirksamkeit heilsbringender magischer Mythen als archaische Form der Welterschließung geprägt und kehren im Falle der Regression zurück. Die fremde Kultur wird, wenn alte Muster neu auferstehen, nicht mehr als ein Anderssein mit prinzipiell gleichem Existenzrecht wahrgenommen. Stattdessen werden wertende Abgrenzungen produziert und die eigene Kultur als überlegen gedeutet. Nationen übergreifende Regulierungen zur Entschärfung der so entstehenden Konfliktpotentiale werden konsequent abgelehnt. Das Zivilisationsprojekt gerät in Gefahr.

Was zunächst wie individueller Hochmut erscheint, erweist sich als Ausdruck kollektiver Engstirnigkeit, die neben der eigenen Identität keine andere gelten lässt. Stattdessen gewinnen Archaisches, Magisches und potentiell Gewaltsames an Boden. Hochmut gilt nicht ohne Grund als erste der sieben Todsünden.

 Neid

Neid (Invidia) als zweite der Sieben Todsünden ist beteiligt, wenn danach getrachtet wird, das als schmerzhaft empfundene Gefälle zwischen dem eigenen und dem fremden Haben zu schließen, indem dieses herabgewertet, weggenommen oder vernichtet wird. Es kann sich dabei sowohl um materielle wie nichtmaterielle Dinge handeln. Neben dem giftigen Neid in Form von Missgunst gibt es einen konsumatorischen Neid, der Begehrtes auf eine allgemein als erlaubt empfundene Weise zu erlangen trachtet, um sozial wohlgefällig die Lücke zwischen Haben und Wollen zu schließen. Die kritischen Reflexionen Erich Fromms über Haben und Sein spielen da kaum noch eine Rolle.

Ein nicht unerheblicher Teil des Warenkonsums ergibt sich aus dem treibenden Wunsch, begehrte Dinge besitzen zu wollen. Medien und Werbung verstärken dies. Schließlich lockt die Shopping-Mall und der Wunsch wird, sofern die notwendigen Mittel vorhanden sind, erfüllt. Die diesem Prozess zugrunde liegende Form des Neids wird im Allgemeinen nicht als verwerflich empfunden, sondern gilt als sozial akzeptiert und ist konstitutiv für wachstumsorientierte Warengesellschaften. Neid als Triebmotor für die Generierung von Konsumbedürfnissen stellt trotz seiner sprachlich häufig negativen Konnotation eine Ressource dar, ohne die eine umsatzorientierte Wirtschaft nicht funktionieren würde.

Die ethische und moralische Diskreditierung des Neids bedarf einer genaueren Betrachtung. Dessen Verunglimpfung als Ausdruck von Egoismus wird nicht selten gerade von denjenigen ins Feld geführt, die sich im Lager der materiell Bevorteilten befinden und aus dieser komfortablen Position heraus Umverteilungsforderungen Benachteiligter zurückweisen. Deshalb ist die Verballhornung einer Erhöhung der Einkommensteuerspitzen als Neidsteuer nichts anderes als Ausdruck einer interessengeleiteten Abwehrhaltung. Auf politischer und kollektiver Ebene wäre es angemessener, solche Debatten unter Einbeziehung der Gerechtigkeitsfrage zu führen und Neid in Form eines politischen Kampfbegriffs als untauglich für die Analyse sozialer Konfliktpotentiale zurückzuweisen. Wieviel, im Kern ökonomische, Ungleichheit sich eine Gesellschaft erlauben will, ist prinzipiell eine zulässige Frage des politischen Diskurses. Die Infragestellung extremer Einkommensspreizungen ist legitimer Bestandteil der Gerechtigkeitsfrage und hat nicht zwingend etwas mit dem alltagspraktisch unscharfen Neidbegriff zu tun.

Auf der Ebene individueller Handlungsmotivationen mögen sich die Dinge anders darstellen. Schadenfreude, Verrat oder üble Nachrede als Ausdruck giftigen Neids gelten als Verhaltensmerkmale ohne Akzeptanz. Hier sind die Dinge relativ klar. Im ideellen Bereich wird es schwieriger, denn Neid auf die Leistungen oder Fähigkeiten anderer kann durchaus einer konstruktiven Grundstimmung entsprechen, die nicht das Ziel einer Schädigung hat, sondern dazu anspornt, selbst, etwa durch Training und Lernen, ein begehrtes Ziel zu erreichen.

Insgesamt stellt sich Neid, nicht zuletzt aufgrund seiner sprachlichen Unschärfe, als eine der komplexesten Kategorien in der Reihe der Sieben Todsünden dar. Zumindest erfordert die auf den ersten Blick negative Konnotation des Begriffs eine genaue Betrachtung des Kontextes seiner Verwendung. Und wer nicht mehr träumen kann, wer keine Kraft mehr aufbringt, Gerechtigkeit einzufordern, wen auch überhaupt kein neidvoller Stachel mehr plagt, dem ist vielleicht etwas von seiner Lebensenergie verloren gegangen oder genommen worden.

 

Zorn

Zorn (Ira) in seiner Erscheinungsform als dritte der Todsünden ist beteiligt, wenn die eigene Wut in eitler Weise als Ausdruck emotionaler Spontaneität gedeutet und selbstgefällig als berechtigt betrachtet wird. Zorn ist jedoch mehr als das, er ist vielschichtig. Zorn kann laut sein, kann mit Worten verletzen, kann bedrohlich sein. Zorn kann zur Handlung und damit gefährlich werden. Er kann aber auch gerechtfertigt und sinnvoll sein.

Wenn die Störung der eigenen Sichtweise auf die Dinge dieser Welt durch die Geltendmachung der Perspektiven anderer unerträglich wird und ängstlich eine Grenzziehung mit Abschreckung verlangt wird, sind eruptive Ausbrüche und atmosphärische Verseuchungen nicht fern. Wut zeigt sich in einer außer Kontrolle geratenen Form, wenn die Bereitschaft zur sozial geregelten Auseinandersetzung ersetzt wird durch dumpfes Grollen und Drohgebärden. Verbirgt sich dahinter die diffuse Angst vor dem Verlust der eigenen Bedeutung, wird Wut zum Indikator für Ohnmachtsphantasien. Sich gegenüber fremden Sichtweisen als machtlos zu empfinden, wirkt, nicht zuletzt auf kollektiver Ebene, immunisierend hinsichtlich des Kulturimperativs der Aggressionskontrolle. Folgen sind Vergeltungsphantasien und die Suche nach Schuldigen.

Der emotionalen Wut steht der reflektierte Zorn gegenüber. Zeigt sich Zorn nicht individuell spontan oder als Ergebnis kollektiver Hysterie, die von interessierter Seite gezielt erzeugt wird, sondern infolge einer Ungerechtigkeit, die auch Dritte betrifft, bekommt er einen anderen Charakter als bei der diffusen Form, die sich auf die vermeintliche Bedrohung des eigenen Seins beruft. Zorn über Unterdrückung, Ausbeutung, Gewalt, Hunger, Genozid oder die fahrlässige Vernichtung der Ressourcen dieser Welt ist zu unterscheiden von dem unliebsamen Gefühl der Einschränkungen, das sich als Abwehrreflex gegen den Anspruch anderer auf eigene Handlungsspielräume einstellt.

Zorn kann aus der Erfahrung einer Ungerechtigkeit erwachsen, von der die eigene Integrität ganz real, nicht nur gefühlt, bedroht ist. Nicht die Existenz anderer Sichtweisen ist dann das Problem, sondern die tatsächliche Einschränkung der eigenen Freiheit. Wer ungerechtfertigt eingesperrt wird, wem die freie Rede verboten ist, wer aufgrund falscher Entscheidungen von Mächtigen ohne eigenes Zutun in Notlage gerät, darf nach allgemeinem Verständnis zornig sein. Zorn wird in diesem Fall als Ressource der Selbstbehauptung anerkannt. Die Verursacher der Bedrohung werden dies jedoch meist anders sehen und alles dafür tun, einen solchen Zorn als illegitim und maßlos zu diskreditieren.

Wie auch beim Neid als zweite der Sieben Todsünden handelt es sich beim Zorn um eine komplexe Angelegenheit, die eine Betrachtung des jeweiligen Kontextes notwendig macht. Erschwerend kommt hinzu, dass sich das lateinische Ira sowohl mit Zorn wie mit Wut übersetzen lässt. Streng genommen sind beide Emotionstypen zu unterscheiden. Noch in der Antike oder in Buddhismus und Taoismus waren sowohl der Zorn wie die Wut negativ konnotiert, und der Einzelne wurde zu ihrer Beherrschung aufgerufen. Das heutige Verständnis nördlich und südlich des Mittelmeers beruft sich in der Regel hingegen, meist unbewusst, auf monotheistische Religionen, deren Konzepte göttlichen Zorns sich der säkulare Mensch angeeignet hat und nun für eigene Zwecke nutzt. Seitdem gelten bestimmte Formen des Zorns als sozial und politisch zulässig.

 

Trägheit

Trägheit (Acedia) als vierte der Sieben Todsünden ist beteiligt, wenn man beständig unter seinen Möglichkeiten bleibt. Nicht Müßiggang ist das Übel. Die temporäre Verweigerung gegenüber den Forderungen an ein Leben im Hamsterrad voller aufgedrehter Aktivitäten, Frohsinn und Konsum kann Ausdruck eines subversiven Unbehagens sein. Diesem Raum zu geben, wäre eine Strategie aktiver Selbsterhaltung. Trägheit hingegen bedeutet Faulheit und Bequemlichkeit. Das ist etwas anderes.

Wie auch bei den anderen Todsünden stellen sich die Dinge bei genauerer Betrachtung komplex dar. So zeigt sich bei hochbegabten Jugendlichen häufig ein Leistungshandeln unterhalb der potentiell gegebenen Möglichkeiten, wenn das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten nicht hinreichend entwickelt ist. Dahinter steht nicht selten die Erfahrung eines als stupide empfundenen Schulunterrichts, der zu Langeweile, Unlust und schließlich einer schwachen Anstrengungsbereitschaft geführt hat. Pessimismus sowie, auf längere Sicht, die Entwicklung depressiver Charakterstrukturen können folgen. Trägheit im Verhalten ist hier keine individuell zu verantwortende Faulheit, sondern Ergebnis vorangegangener lähmender Umstände. Dies lässt sich verallgemeinern: Bei einer durch Depression entstandenen Trägheit handelt es sich nicht um eine freiwillig gewählte Lebenshaltung, sondern um die endogen oder exogen erzwungene Beschränkung des eigenen Handelns. Hier von Laster oder Todsünde zu reden, wäre verfehlt.

Auch wer sich bewusst der trägen Langsamkeit hingibt und innere Ruhe nach außen durch ein abgesenktes Aktivitätsniveau zum Ausdruck bringt, mag auf den ersten Blick als faul erscheinen. Von der Antike über Rousseau bis zu Hermann Hesse und modernen Konsumverweigerern wurde die Kunst des Müßiggangs hingegen schon immer als Ausdruck einer Vita contemplativa und wertvoll für kreative, innovative Gedanken geachtet. Einen Ausgleich zwischen Ruhe und Arbeit, zwischen Passivität und Aktivität herzustellen, fällt in modernen Industriegesellschaften jedoch schwerer, als sich einem dynamischen Aktionismus hinzugeben. Die häufig negative Konnotation des Müßiggangs zeigt so ihre Wirkung. Das einfache Nichtstun wird als schwer erträglich empfunden oder mit schlechtem Gewissen verbunden. Man muss schließlich produktiv sein und das Leben effektiv gestalten.

Eine lasterhafte Erscheinungsform der Faulheit offenbart sich, wenn ohne triftige Ursache vorhandene Potentiale oder Begabungen kontinuierlich nicht genutzt werden und stattdessen für das Nichtstun Ausreden mit fadenscheinigen Begründungen konstruiert werden. Mitunter werden auch Schuldige verantwortlich gemacht oder Betäubungen gesucht, die zur Sedierung der eigenen Aktivitätskräfte führen. Mittel für die Selbstlähmung stehen im nächsten Supermarktregal reichlich zur Verfügung. Die einstmals vorhandenen Potentiale und Begabungen gehen auf diese Weise sukzessive verloren. Es ist diese Art der Verschwendung eigener Talente, die dazu geführt hat, Trägheit als eine der Todsünden zu benennen.

 

Geiz

Geiz (Avaritia) als fünfte der Sieben Todsünden ist beteiligt, wenn materieller oder finanzieller Besitz weit über den notwendigen Bedarf hinaus angehäuft und ständig mit Argusaugen bewacht wird. Die Angst vor seinem Verlust fordert aufwändige Sicherungsmaßnahmen, so dass sich Dritten gegenüber ein zunehmendes Misstrauen entwickelt. Während Sparsamkeit als Mittel der Daseinsvorsorge für Notzeiten gilt, ist Geiz Ausdruck des Strebens nach Reichtum als Selbstzweck.

Schon die Trägheit ließ sich aufgrund des ausbleibenden Gebrauchs eigener Talente und Begabungen als geizige Haltung verstehen. Man beschränkt sich selbst und lässt andere von seinen Fähigkeiten nicht profitieren. Veränderungen steht man eher ängstlich gegenüber. Geistiger Geiz ist nicht selten Ausdruck eines Mangels an Vertrauen. Vorsichtshalber ist man mit Wenigem zufrieden und hortet innere Reichtümer, die ohne Verwendung bleiben. Dumm nur, dass Talente und Begabungen bei Nichtgebrauch verkümmern oder sich gar in Luft auflösen.

Diese Gefahr droht auch dem pekuniär Geizigen, wenn Angespartes seinen Wert verliert oder aufgrund gieriger Fehlspekulation verspielt wird. Geiz führt direkt ins Verderben, wenn aus Habgier jegliche Vorsicht fallengelassen wird und das Motiv des Habenwollens eine Sucht entstehen lässt, die Risiken nicht mehr wahrhaben will. Der Süchtige agiert übermütig wie im Rausch und produziert Unmengen an verstärkenden Glücksbotenstoffen. Bis zum Finale. Anschließend folgt der Katzenjammer.

Die Habsucht in Form der Geldvermehrung als Selbstzweck hat nicht ohne Grund seit dem Aufkommen der Handels- und Finanzwirtschaft in der Epoche zwischen Hochmittelalter und Renaissance in der Hierarchie der Todsünden den Hochmut als einstmals tabellenführendes Laster abgelöst. Dahinter stand die Erfahrung, dass die Folgen der Habsucht dramatischer sein können als die des lästigen oder peinlichen Stolzes, über den man pikiert die Augen verdreht, der ansonsten aber häufig nicht mehr ist als ein unangenehmer Charakterzug.

Sich aus Angst vor Armut nichts zu gönnen und so ein Leben in genau dieser antizipierten Armut zu führen, stellt eine Paradoxie dar, die freudlos und misstrauisch macht. Über den auf einem Berg von Talern sitzenden und über die Welt schwadronierenden Dagobert Duck konnte man noch schmunzeln, aber auch hier blieb das Lachen schon im Halse stecken. Zufriedenheit oder gar Glück konnte das nicht sein. Der Mafiaboss, der in einer einfachen Hütte haust, der zurückgezogene Eigenbrötler, der nach seinem Tod eine verkommene Wohnung und ein prall gefülltes Bankkonto hinterlässt, oder eben Dagobert verkörpern verschiedene Elemente eines allgemein als negativ empfundenen Geizes. Dass die Übergänge von der Tugend der Sparsamkeit zum Laster der Habsucht fließend sind, macht die Sache nicht einfacher.

 

Maßlosigkeit

Maßlosigkeit (Gula) als sechste der Sieben Todsünden ist beteiligt, wenn man sprichwörtlich den Hals nicht vollbekommt. Es geht aber nicht nur um Speise und Trank, sondern auch um andere Formen der Maßlosigkeit. Der kritische Blick scheint jedoch so gar nicht in die Zeit zu passen, wird doch das moderne Leben, zumindest für einen Teil der Gesellschaft, beständig durch Überfluss bestimmt. Für einen anderen Teil hingegen gilt genau dies nicht. Der Mangel mag hier relativ sein, mitunter zeigt er sich aber auch absolut.

Auf der globalen Ebene fällt die Erkenntnis leichter als auf der lokalen: Überfluss für die Einen bedeutet Mangel für Andere. Dies wird bei der Betrachtung volkswirtschaftlicher Handelsbilanzen deutlich. Das national angestrebte Ziel einer Erfolgsrechnung mit Überschuss kann logisch niemals zur Realität für alle werden. Nationen mit positiver Bilanz sind nur denkbar, weil es andere gibt, die auf einer negativen Ergebnisrechnung sitzenbleiben. Auch wohlfeile Wettbewerbserklärungen, nach der einige eben klüger oder fleißiger seien als andere, können die Folgen nicht schönreden: Kollektiver Reichtum auf der einen Seite bedingt kollektive Armut an anderer Stelle. Das alles ist bekannt, hält uns aber nicht davon ab, weiterhin den eigenen Überfluss zu Lasten Dritter zu gestalten, denen wir im Übrigen allzu gerne unsere Produkte verkaufen und gleichzeitig die zur Rechnungsbegleichung notwendigen Kredite zur Verfügung stellen. Schließlich sichert dies ja Arbeitsplätze, jedenfalls bei uns. Global kann das Modell auf Dauer nicht funktionieren. Die Schulden werden bei einer Aufrechterhaltung der gegenwärtigen globalen Handelsstrukturen und der sich daraus ergebenden Bilanzen nicht zurückgezahlt werden können. Wer das nicht wahrhaben will, verschließt die Augen vor einer unangenehmen Erkenntnis.

Lokal betrachtet verteilt sich das Ergebnis der jeweiligen nationalen Erfolgsrechnungen noch einmal höchst unterschiedlich. Korrupte Eliten in einigen der ausgebeuteten Länder der Welt scheren sich einen Dreck um die negative Handelsbilanz ihres Landes und raffen zusammen, was zu kriegen ist. Potentaten lassen es sich in der Schweiz und andernorts mit Begleitung der Yellow Press gut gehen, während das eigene Volk vor die Hunde geht. Der Kontrast zu den Lebensbedingungen der Ärmsten ist nirgendwo größer. Und bei uns? Auch in den Wohlstandsnationen mit Handelsbilanzüberschuss spreizt sich seit Jahrzehnten das Gefälle zwischen Arm und Reich. Den schon immer Wohlhabenden ist es gelungen, das Nettoergebnis des national Erwirtschafteten noch stärker auf sich zu ziehen, als es ohnehin der Fall war. Letztlich gilt hier Ähnliches wie bei der globalen Betrachtung.

Auch wenn in westlichen Industrienationen niemand wirklich lebensbedrohend hungern muss, hat die relative Armut, gemessen am nationalen Wohlstandsniveau, zugenommen. Dies bedeutet Überfluss für die einen, Mangel für andere. Völlerei bei Speise und Trank ist dabei nur ein Aspekt, der im Übrigen mit dem Indikator Wohlstand nicht einmal unbedingt korreliert. Auch mit wenig Geld lässt sich der Bauch vollstopfen. Das ist aber eine andere Geschichte.

 

Ausschweifung

Luxuria als siebente Todsünde, mit Wollust nur unzureichend übersetzt, ist beteiligt, wenn Exzessives zum vorherrschenden Lebensthema wird. Explizite Sexsucht ist eine ihrer Erscheinungsformen. Die Vermarktung sexueller Reize als konsumtreibender Mechanismus bildet den Nährboden. Im Kontrast hierzu steht die Verdammung der Wollust bzw. der Sexualität im Kontext mittelalterlicher Hexen- und Teufelsphantasien. Keine andere der sogenannten Todsünden weist vergleichbare Gegensätze auf.

Wollust hat auch in früheren Jahrhunderten trotz ihrer kirchlichen Missbilligung eine, zumindest unterschwellige, positive Konnotation als Ausdruck eines vitalen Lebensprinzips erfahren. Das Bonmot, es handele sich bei ihr um das schönste aller Laster, gilt für das Triebwesen Mensch nicht erst in der Neuzeit. Und spätestens seit Freud wissen wir, dass es sich bei der Mischung aus Lust und einer aus dem Verbot resultierenden Angst um eine höchst brisante Angelegenheit handelt, die allerlei Belastendes hervorrufen kann, aber eben auch ein erhebliches Erregungspotential mit sich bringt. Wer sich, zumindest offiziell, dem Zölibat unterwirft, muss das in besonderer Weise verspüren. Aber während über Jahrhunderte hinweg das Verbotene in Gestalt doppelter Moral still praktiziert wurde, ist das katholische Dogma nun erstmals in seiner jahrhundertealten Geschichte mit gesellschaftlichen Forderungen nach einem Ende des Schweigens konfrontiert. Priesterliche Doppelmoral wird in Zukunft nicht mehr so leicht funktionieren.

Losgelöst vom kirchlichen Tabu begegnete man der Wollust als Ausdruck verzehrender Leidenschaft stets mit einem gewissen neugierigen, nicht selten als Literatur oder Kunstbetrachtung getarnten, Interesse. Aber während man die Geschichten Casanovas oder Don Juans einstmals noch mit einem wohligen Schauer las, gelten beide heute als lächerliche Figuren oder üble Chauvinisten, für die Sex nichts weiter als Ausnutzung anderer zur Versicherung der eigenen Herrlichkeit bedeutete. Rückt man hingegen männliche und weibliche Perspektiven gleichermaßen und gleichberechtigt in den Blickpunkt der Betrachtung, entsteht ein Bild der Wollust, die sexuelle Begierde und auch den Einsatz der Phantasie zur Steigerung der Lustempfindung im Duett gesellschaftsfähig macht. Deren Verachtung als ruchlos und frevelhaft, wie früher verbreitet, ist heute einer Wertschätzung der Sexualität als kultivierter praktischer Kunst gewichen. Bei der Umsetzung von Phantasien sind die Grenzen des Erlaubten deutlich weiter gezogen als in früheren Zeiten. Nicht die Ekstase, die gegenüber der alltäglichen Vernunftsteuerung ein Korrektiv bietet, sondern eher die sexuelle Verklemmtheit gilt nun als Makel. Hier sind in den vergangenen Jahrzehnten neue Regeln, damit allerdings auch ein neuer Druck, entstanden.

***

Der ursprünglich Kontext und die alte Sprache verstören mitunter, auch wenn Begriffe wie Hochmut, Neid und Geiz Bestandteile des alltäglichen Sprachgebrauchs geblieben sind. Zwar meist negativ konnotiert, weisen sie subkutane Wechselwirkungen zu den Mechanismen der modernen Wettbewerbs- und Warengesellschaft auf. Vielleicht liegt hier der Grund. Beim Zorn ist es schwieriger. Das Ideal der Coolness steht zu ihm im Widerspruch, gleichwohl genießt er als Ausdruck einer hier und dort als berechtigt empfundenen, rebellischen Geisteshaltung eine gewisse Akzeptanz. Die Bezeichnungen Trägheit, Völlerei sowie Ausschweifung sind in der Alltagssprache hingegen selten geworden. Aber gerade die mit ihnen ausgedrückten Verhaltensweisen beziehungsweise inneren Haltungen sind es, die in Gestalt anderer Begrifflichkeiten auch weiterhin eine gewisse Verbreitung aufweisen oder sogar kulturelle Wertschätzung genießen.

Unabhängig von der Unterteilung in die eher negativ konnotierten Laster auf der einen Seite und ambivalente auf der anderen geht es heute nicht mehr um die Identifikation ketzerischer Sünden, die nach dem Beichtstuhl rufen oder gar mit dem Fegefeuer bedroht sind, sondern um die Psychologie allgegenwärtiger Verhaltensmotive und Begierden.

Auch für alle im herkömmlichen Sinne Nichtgläubigen kann die Auseinandersetzung mit den archetypischen Grundmustern der als die Sieben Todsünden betrachteten Verhaltensphänomene eine Form der Reflexion darstellen.

Jenseits individueller Nachdenklichkeiten steht die Frage im Raum, ob die Befassung mit den Sieben Todsünden einen Beitrag zur kollektiven Sozialethik zu leisten vermag. Wie lassen sich die mit ihnen ausgedrückten, potentiell konfliktträchtigen Impulse des Triebwesens Mensch zähmen? Dieser Diskurs kann durchaus im säkularen Rahmen geführt werden.

Sobald man von der alten Sprache und den alten Kontexten abstrahiert, bildet der Kanon der Sieben Todsünden einen Katalog von Herausforderungen sowohl an den Einzelnen wie an die Gesellschaft.

Gesellschaftliche Normen und soziale Korrektursysteme von der Erziehung bis zur Bestrafung oder Ächtung scheinen allerdings nur eingeschränkt geeignet, das in archetypischen Mustern Verwurzelte zu bändigen. Das Problem ist somit gesellschaftlich nicht vollständig lösbar.

Auch in den sich selbst alternativ oder subkulturell verstehenden Lebensformen sind die genannten Laster anzutreffen, selbst wenn dies in anderen Erscheinungsformen als im Alltag der bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft geschieht.

Das Konzept der Sieben Todsünden als überholtes Zeug aus vergangenen Zeiten abzutun, das keine weitere Aufmerksamkeit verdient, würde einer Verdrängung hinsichtlich der Wahrnehmung eigener Schattenseiten gleichkommen. Jede Verdrängung rächt sich aber bekanntlich auf die eine oder andere Weise.

***

Hochmut

Hochmut galt bis in das Spätmittelalter als übelste der Todsünden. Nahezu immer ging es um den Vorwurf der Verletzung kirchlicher Dogmen. Wer sich anmaßte, selbst die Welt verstehen oder gar lenken zu wollen, forderte den Klerus und dessen Machtapparat heraus. Ketzerei konnte zur Hinrichtung und auf den Scheiterhaufen führen.

Neben Ichbezogenheit sind Eitelkeit und Machtstreben weitere Erscheinungsformen des Hochmuts. Sie entfernen den Menschen von Gott, so die mittelalterliche Logik, und rücken ihn auf überhebliche Weise in das Zentrum des Weltgeschehens. Seit der Renaissance veränderte sich jedoch das Verständnis der Superbia, da die neue Zeit wesentlich durch die Entdeckung genau solcher individueller Perspektiven gekennzeichnet war. Der Blick des Einzelnen auf die Dinge der Welt setzte sich mehr und mehr als zulässig durch und das alttestamentarische Verständnis des Hochmuts als Gotteslästerung verlor die angestammte Wirkkraft.

An seine Stelle trat eine Interpretation der Superbia, die sich nun eher durch den Gegensatz zur neutestamentarischen Demut definierte. Auch diese bedeutete zwar weiterhin Demut vor Gott. In Folge der Individualisierung der Weltsicht und einer neuen, nicht selten pantheistischen, Gottesauffassung führte der weitere Weg nach der Reformation sowie der politischen und philosophischen Aufklärung jedoch zu einem Verständnis, das den expliziten Gottesbezug nicht mehr zwingend voraussetzte. Der schonende und nachhaltige Umgang mit den Ressourcen der Welt, ein kompetentes Sozialverhalten und diskursiv angelegte Kommunikationsformen, die davon ausgehen, dass es immer auch eine Wahrheit des anderen gibt, gelten heute als moderne Formen demütigen Verhaltens.

Hochmut bildet für die meisten Menschen keine religiös begründbare Todsünde mehr. Aber auch bei einem säkularen Verständnis wird sein destruktiver Charakter deutlich. So lassen sich die Geschichte des Turmbaus zu Babel oder die vom fliegenden Icarus in die Moderne übertragen und als Gleichnisse für einen Menschen verstehen, der jeglichen Maßstab verlorenen hat. Größenwahn und Omnipotenzphantasien sind keine Erscheinungen nur der Vergangenheit.

Zahlreiche Bilder in den Museen aus der Zeit des Spätmittelalters bis zur Renaissance beinhalten direkt oder indirekt Hinweise auf die Sieben Todsünden. Entweder geht es um deren Darstellung oder um die sich aus ihnen ergebenden Höllenqualen.

 

Neid

Das weltliche Kapitel der christlichen Mythologie beginnt nach der Schöpfung mit Kain, dem ersten Sohn Adams und Evas, der den jüngeren Bruder Abel erschlug. Dieser Urmord des Menschengeschlechts war, so die erzählte Geschichte, Folge des Neids. Als quälende Leidenschaft, die zum Äußersten führen kann, nahm er fortan in der Hierarchie der schweren Laster einen hohen Rang ein.

Kains Neid bildet, folgt man der alttestamentarischen Logik, ein Grundübel, das an alle nachfolgenden Generationen weitergegeben wurde. Natürlich, es handelt sich um Mythologie. Das muss nicht näher ausgeführt werden, so wie überhaupt alle Geschichten des Alten Testaments Bilder beschreiben, die in früheren Zeiten zur Deutung der Welt erdacht wurden, aber keine Tatsachenbehauptungen im heutigen Sinne sind. Dies ändert nichts daran, dass es sich beim Neid auch aus säkularer Sicht um eine der Grundkonstanten sozialer Beziehungsmuster handelt. Völkerkundler haben nur in wenigen, archaisch lebenden Stammeskulturen Hinweise darauf gefunden, dass es eine vollkommene Abwesenheit von Neid geben könnte. Die Gegenwartskultur der warenwirtschaftlichen Moderne gehört jedenfalls nicht dazu.

Beim Neid handelt es sich um einen der wirkungsvollsten Antreiber der Konsumökonomie. Das zu haben, was auch der Nachbar besitzt, so auszusehen wie das angesagte Supermodel, sich so darstellen zu können wie der coole Talkshowgast, alles dies sind Erscheinungen eines domestizierten Neidimpulses, der kompatibel ist zur Mehrheitskultur. Nur in seltenen, dann meist extremen Fällen, werden neidische Attitüden mit Argwohn betrachtet oder negativ konnotiert. Wer aus Neid zu fies wird, wer zu unlauteren Mitteln der Bedürfnisbefriedigung greift oder wer zu arrogant und egozentrisch wirkt, muss damit rechnen, als unangenehmer Zeitgenosse klassifiziert und abgelehnt zu werden. Naheliegend allerdings der Verdacht, hinter der moralischen Empörung könnten sich eigene neidvolle Impulse verbergen, die insgeheim die fremde Frechheit bewundern; oder negative Projektionen, nach der man genau das an anderen ablehnt, was einem selbst als spontane, sozial jedoch nicht zulässige Neigung durchaus vertraut ist. Bei der Eifersucht handelt es sich im Übrigen um eine Unterkategorie der Invidia.

 

Zorn

Einerseits wird der friedfertige Charakter des Christentums betont, auch wenn dabei Teile des historischen Erbes wie die Kreuzzüge, die Inquisition oder die Unterstützung weltlicher Unrechtsregime ausgeblendet oder verdrängt werden. Zorn sowie die aus ihm resultierende Gewalt sind in der Regel negativ konnotiert. Andererseits sprechen die Geschichten des Alten Testaments an vielen Stellen von einem Gott, der genau dies ist, nämlich zornig und wenn es sein muss, auch gewalttätig.

Das Dilemma lässt sich auflösen, wenn Gott als einziger Instanz ein Gewaltmonopol eingeräumt wird. Jegliche Gewalt im weltlichen Diesseits wäre dann zu verdammen, konsequent gedacht auch die von der Kirche selbst ausgehende. Theologische Sophisten haben deshalb über viele Jahrhunderte nichts unversucht gelassen, die Handlungen der päpstlichen Kirche als eine unmittelbar dem göttlichen Auftrag folgende Befehlsausführung darzustellen. Gottes Zorn wurde so auf die Erde geholt, kirchliche Gewalt war legitimiert. Sowohl die Kreuzzüge wie auch die Inquisition mit ihren Hinrichtungen sowie andere Schandtaten ließen sich auf diese Weise rechtfertigen.

In der Neuzeit bildete sich infolge der Reformation die Idee eines gerechten Zorns weltlicher Art, der sich nicht mehr am göttlichen Auftrag im Sinne des Alten Testaments orientierte, sondern an Botschaften des Neuen Testaments, die auf soziale und ökonomische Missstände Bezug nahmen. Ungerechtigkeiten und deren Beseitigung wurden zu weltlichen und potentiell politischen Themen. Die auf den Kolonialismus des 18. bis zum 20. Jahrhundert reagierende Befreiungstheologie, obwohl selbst katholisch, war diesem Gedankengang verpflichtet. Zornige Aktionen gegen autoritäre Regime ließen sich nun mit Hinweis auf einen Gerechtigkeitssinn begründen, der im Übrigen, parallel zur theologischen Dynamik, auch säkular aus der Erklärung der Menschenrechte sowie den Prämissen der liberalen Zivilgesellschaft ableitbar war.

Heute sind es nicht nur Themen gesellschaftlicher Chancenungleichheit oder die aus dem Ruder laufenden Vermögensdisparitäten, die erzürnen. Für Zorn gibt es auch Anlässe auf der Ebene des täglichen Erlebens. Missbrauchsvorwürfe, nicht zuletzt gegen Vertreter der Kirche, bei denen es um sexuelle Unterdrückung und Ausbeutung geht, zählen dazu. Zorn lediglich als eine unangenehme Charaktereigenschaft zu begreifen, wäre deshalb zu kurz gedacht. Es gibt gute Gründe, zornig zu sein.

Eigene Impulse zu reflektieren und diskursiv zu prüfen, bevor sich aus ihnen aggressive Handlungen ergeben, trägt dazu bei, zwischen einem gerechten und einem sozial destruktiven Zorn zu unterscheiden. Das alte Konzept des Zorns als eine der Sieben Todsünden führt nichtsdestoweniger, transformiert man die Idee ins Säkulare, zur Erkenntnis, dass funktionierendes gesellschaftliches Zusammenleben ein gewisses Maß an Kontrolle destruktiver Impulse verlangt.

 

Trägheit

Die im Mittelalter als Acedia zusammengefassten Phänomene wären mit Trägheit im Sinne von Faulheit nur unzureichend übersetzt. Eher gemeint ist eine innere Haltung ohne aktives Bemühen oder Sorge für andere, verbunden mit der Suche nach entschuldigenden Gründen für die Distanzwahrung beim Anblick fremder Schicksale. Das mag aus Bequemlichkeit geschehen, aus Furcht vor lästigen Konsequenzen oder aufgrund eines Verständnisses, nach dem jeder selbst sehen muss, wie er klarkommt.

Die Übersetzung von Acedia mit Trägheit des Herzens klingt zwar, so erweitert, etwas antiquiert, trifft den Kern jedoch recht gut. Aber es bleibt eine Gratwanderung. Die permanente Einmischung in die Angelegenheiten Dritter, ein überdrehtes Helfersyndrom oder ein pädagogisch anmutendes Beschützerverhalten sind meist nicht hilfreich. Das Gegenteil jedoch, die arrogante Egozentrik derjenigen, die vor einigen Jahren einen Spruch an das Heck ihres Autos klebten, den man sich dümmer kaum vorstellen kann, ist es auch nicht: Eure Armut kotzt mich an! Mag sein, dass die Provokation witzig gemeint sein sollte. Dies ändert nichts daran, dass es sich bei dem Aufkleber um einen Ausdruck sozialer Verwahrlosung handelt, die sich aus Bosheit und Gleichgültigkeit nährt. Man darf vermuten, dass diejenigen, die sich mit solchen Sprüchen sozial nach unten abgrenzen, nichts mehr fürchten, als eines Tages selbst zu den Verarmten zu zählen. Dies erzeugt jedoch offenbar weder Nachdenklichkeit noch Solidarimpulse. Die Angst vor dem eigenen Abstieg ist so groß, dass sie verdrängt werden muss.

Andere Verhaltensweisen oder Denkformen, die oberflächlich wie Trägheit erscheinen, können Ausdruck einer depressiven Erkrankung sein. Hier von Laster zu sprechen, übersieht, dass die Entscheidungsfreiheit für angstfreies Verhalten nicht immer vorausgesetzt werden kann. Sie wiederzugewinnen, wäre Aufgabe eines selbstreflexiven oder therapeutischen Prozesses. Dabei wird häufig die Notwendigkeit einer Befreiung von Schuldkomplexen erkannt, die aus biografischen Lebensumständen und möglicherweise auch kirchlichen Erziehungsritualen erwachsen sind. In der Antike wusste man im Übrigen zwischen Melancholia und Acedia zu unterscheiden. Das mittelalterliche Menschenbild hingegen offenbart sein destruktives Potential nicht zuletzt darin, dass es auch das Melancholische, heute Depressive, als Hinweis auf Schuld und Sünde begriff.

 

Geiz

Dass die mittelalterliche Kirche den Geiz auf die Liste der Todsünden gesetzt hat, kann nicht überraschen. Geizige Menschen gelten als knickrig, und da die päpstlichen Geldeintreiber allzu gerne nahmen, konnte eine zusätzliche Motivation zum Geben nicht schaden. Der Handel mit Ablassbriefen funktionierte bis in Luthers Zeiten, weil erstens das höllische Drohkonzept jede sündhafte Tat zum anschließenden inneren Alptraum werden ließ und zweitens das Verbot des Geizes alle Bedenken hinsichtlich der befreienden Gaben an den Klerus vom Tisch wischte.

Die Schwestern des Geizes heißen Habsucht und Raffgier. Und hier wird die Sache spannend. Denn während die päpstliche Kirche aus eigenem Interesse den Geiz verdammte und auch selbst nicht sparsam blieb bei den Investitionen in prunkvolle Bauten sowie der Finanzierung der Lebensweise ihrer Würdenträger, entwickelte sich mehr und mehr ein autonomer Mechanismus, der die Anhäufung von Reichtümern zum Selbstzweck werden ließ. Die Renaissance ist voller Beispiele. Zwar sind gerade in dieser Zeit grandiose Kunstwerke entstanden, die uns bis heute faszinieren, aber eben auch Schatzkammern, Bankkonten und ein immenser Immobilienbesitz, was ohne die institutionalisierte Angstmacherei und klerikale Scheinheiligkeit undenkbar gewesen wäre.

Einige katholische Orden hatten schon lange vor Luther das Problematische dieser Heuchelei erkannt und einen Weg des bewussten Verzichts gewählt. Aber erst mit der Reformation wurden die Frage nach dem Gehalt des christlichen Sündenkonzeptes grundsätzlich neu gestellt, der Ablasshandel als Mumpitz entlarvt und die Scheinheiligkeit einer Reihe katholischer Priester rigoros und mit drastischen Worten an den Pranger gestellt. Und heute? Ein bekannt gewordener Limburger Bischof hat die, offenbar keineswegs überwundene, mentale Haltung klerikaler Raffgier vor wenigen Jahren noch einmal in einer karnevalesken Protzversion neu vorgeführt.

 

Maßlosigkeit

Völlerei macht gedankenlos und stumpfsinnig, so lässt sich der Kern des mittelalterlichen Sündenverdikts zusammenfassen. Wer in Saus und Braus lebt, hat jegliche Demut abgelegt. Alles wird als selbstverständlich empfunden, auch die Gaben der Natur. Missernten und Hungersnöte konnten jedoch praktisch nur von denjenigen ignoriert werden, die im oberen Bereich der gesellschaftlichen Machtpyramide lebten. Existenzielle Armut stellte für sie lediglich ein entferntes, nahezu unbekanntes Phänomen dar.

Der anklagende Zeigefinger der Kirche weist auch hier, wie schon beim Geiz, auf eine innere Spannung hin. Die Strafandrohung unterschied formal nicht zwischen der Stellung in der gesellschaftlichen Hierarchie und wandte sich somit erst einmal an jeden. Die Gelegenheit, der Völlerei zu verfallen, war über viele Jahrhunderte jedoch real nur wenigen gegeben, und diese waren nicht zuletzt Angehörige des Klerus selbst. Berichte über gefräßige Mönche und Bischöfe, die es sich an reichlich gedeckten Tafeln gut gehen ließen, haben bis zur Reformation das Bild einer Kirche gezeichnet, die durch Bigotterie und Heuchelei geprägt war. Luthers Aufstand gegen das klerikale Establishment ist nicht zuletzt hierauf zurückzuführen.

Nun war Luther erklärtermaßen kein Anhänger einer asketischen, freudlosen Lebensweise. Auch zu Speise und Trank fühlte er sich hingezogen. Aber nach allem, was wir über seinen und Katharina von Boras Alltag im Wittenberger Haushalt wissen, war dieser durch große Gastfreundschaft geprägt und man traf sich regelmäßig im größeren Kreis an der Tafel. Mit Ausschweifung und Völlerei hatte die Geselligkeit wenig zu tun. Und dennoch, die Haltung der Kirche, auch der neuen protestantischen, blieb gegenüber der ehemaligen Todsünde Völlerei ambivalent. Durfte man sich nun ohne Reue den Freuden des Genusses hingeben?

Die gefundene Kompromissformel setzte insbesondere auf den Begriff der Mäßigung. Völlerei an sich konnte auf diese Weise weiterhin als eitel und demutsfern gebrandmarkt werden. Andererseits wurde das Streben nach gutem Essen und Genuss dann akzeptiert, wenn es stilvoll im Rahmen begrenzender Konventionen stattfand. Das Große Fressen, ob nun bei Hofe, im Bischofspalast oder als filmische Dekadenzaufführung, gehörte weiterhin zum offiziell Verpönten. Aber es war eine Gratwanderung und manche Unklarheiten blieben bestehen. Dass eine Reihe französischer Spitzenköche vor einigen Jahren einen Vorstoß gegenüber der katholischen Kirche unternahm, die Völlerei als Todsünde zu streichen oder wenigstens durch die enger gefasste Sünde der Gefräßigkeit zu ersetzen, war nur logisch. Die Initiative blieb allerdings erfolglos.

Die Unterscheidung zwischen dem Feinschmecker und dem gefräßigen Hedonisten ist eine kritische Angelegenheit. Die Kultur der Gegenwart neigt dazu, die Grenze wieder schärfer zu ziehen und die Völlerei als Charakterschwäche zu bewerten. Mit religiöser Gesinnung hat das freilich kaum mehr etwas zu tun. Diätprogramme und Schlankheitswahn werden nicht als Verzichts- und Demutsübung verstanden, sondern gänzlich ohne transzendentalen Hintergrund aus den Idealen permanenter Fitness und altersloser Schönheit abgeleitet. Die Schuldkomplexe mögen heute von den Sündigen dennoch als ähnlich belastend empfunden werden wie in früheren Jahrhunderten beim Verstoß gegen das religiös begründete Völlereiverbot. Einiges spricht sogar dafür, dass im Vergleich zum heutigen Schlankheitswahn die altehrwürdige Doppelmoral leichter zu ertragen gewesen ist. Man ging zur Beichte und setzte sich anschließend wieder zu Tisch. Die säkulare Gegenwartskultur ist da gnadenloser. Wer etwas werden will, muss den Anforderungen entsprechen und sündenfrei erscheinen, zumindest was die in Gestalt der Leibesfülle sichtbaren Folgen der Völlerei anbelangt. Schlanksein ist Pflicht. Die alte Todsünde wirkt fort, wenn auch in anderer Erscheinungsform und mit anderen Konsequenzen.

 

Ausschweifung

Alles Verbotene reizt bekanntlich in besonderer Weise. Es ist deshalb Vorsicht angebracht, wenn man die warnenden Hinweise auf die böse Existenz des Teufels für bare Münze nimmt. Wer akribisch dem Verbotenen nachforscht, bis endlich seine Spuren entdeckt sind, um dann mit Empörung zu reagieren, ist mit großer Wahrscheinlichkeit selbst fasziniert von den aufgedeckten Abgründen.

Der Jäger erkennt sich unterschwellig im Spiegel der eigenen Traumphantasien, kann sich diese jedoch nicht eingestehen und bestraft stattdessen andere. Der Diskurs zur Wollust als Ausdruck sexueller Aktivitäten jenseits des gesellschaftlich Erlaubten belegt dies in besonderer Weise. So wie der Pornografiejäger früherer Zeiten nichts sehnlicher wünschte, als endlich auf das Untersagte zu stoßen, liegt auch beim kirchlichen Wollustverbot der Ambivalenzverdacht nahe. Insbesondere diejenigen, die sich selbst dem Keuschheitsgebot unterworfen haben, stehen unter dem Druck, mit den eigenen, als teuflisch wahrgenommenen, Trieben umzugehen. Meditationen und kalte Duschen helfen da nicht immer. Auswege bieten die Doppelmoral, die heimlich das geschehen lässt, was es offiziell nicht geben darf, oder der perfide als Zuwendung getarnte kriminelle Missbrauch Schutzbefohlener. Hinzu kommt eben jene projektive Form der Verarbeitung, die bei anderen genau das anprangert, was man selbst gerne hätte oder tun würde.

Jede Gesellschaft, ob Stammeskultur oder komplexes System, fordert von ihren Mitgliedern die Einhaltung bestimmter Regeln, auch hinsichtlich der sexuellen Aktivitäten. Die Normen weisen eine große Bandbreite auf, mal ist mehr erlaubt, mal weniger. Die Konfrontation mit dem Nichterlaubten ist aber nicht nur eine subjektive Herausforderung für den Einzelnen und führte über Jahrhunderte zur Anwendung kollektiver Sanktionen. Diese basierten auf einem Strafsystem von der sozialen Ächtung bis zum Kerker oder gar dem Scheiterhaufen. Individuell und heimlich gab es gleichwohl Möglichkeiten, nach außen die Konvention zu wahren und den Sanktionen zu entgehen, unter der Bettdecke jedoch dem Begehrten einen heimlichen und umso spannenderen Raum zur Entfaltung zu geben. Wollust als eine der mittelalterlichen Todsünden ist in besonderer Weise eine Verbotsnorm, die, extrem dialektisch wirkend, dazu anstachelt, gerade die Konzentration auf das Sexuelle zu richten und es damit noch interessanter zu machen, als es ohnehin ist.

Wir fühlen uns in der Moderne zwar von den alten Konventionen befreit, verkennen dabei jedoch, dass bestimmte Verbote so stark internalisiert sind, dass wir sie gar nicht mehr als solche empfinden. Nehmen wir als Gedankenübung einen fiktiv gedachten mittelalterlichen FKK-Strand. Ein solcher Ort wäre damals Auslöser für mancherlei wollüstige Phantasien und wohl auch Handlungen gewesen. Ob geschlechtsspezifisch gleich verteilt oder nicht, sei dahingestellt. Und heute? Wir haben es, viel stärker als in früheren Zeiten, gelernt, unsere Triebbedürfnisse zu beherrschen. Visuelle sexuelle Stimuli bleiben in der Regel folgenlos. Wir verhalten uns ganz überwiegend deutlich kontrollierter als die mittelalterlichen Vorfahren. Das gilt im Übrigen nicht nur für das Bürgertum und seine Moral. Die Sexualmoral insgesamt ist heute bei genauer Betrachtung hinsichtlich der Eigenkontrolle wirksamer als in früheren Jahrhunderten.

***

Mit dem Sündenregister korrespondieren gegensätzliche Tugenden. Bei der Umgehung des Verbotenen dienen sie der aktiven Orientierung. Demut, Wohlwollen, Friedfertigkeit, Fleiß, Barmherzigkeit, Bescheidenheit, sexuelle Selbstbestimmtheit.

Dem Hochmut steht die Demut gegenüber. Nicht selten wird sie auf der allgemeinen Bekenntnisebene als eine der, kollektiv gesehen, anerkanntesten Grundhaltungen gegenüber den Mitmenschen und der Natur genannt. Im religiösen Sprachkontext entspricht dem die Demut gegenüber der Schöpfung. Und dennoch, Hochmut, verstanden als Eitelkeit oder Geltungsdrang, bildet für die Dynamik moderner Konkurrenzgesellschaften einen so wirkmächtigen Antrieb, dass eine negative Konnotation bei genauerem Hinsehen nicht wirklich verzeichnet werden kann. Demut als Haltung erscheint vielen Freundinnen und Freunden der bedenkenlosen Spaßgesellschaft als unattraktiv.

Den Gegensatz zum Neid stellt das Wohlwollen dar. Eine freundliche, neidlose Grundhaltung wird in der Regel als sympathisch empfunden. Aber auch hier gilt: Das Habenwollen als Folge von Neid bildet ein zentrales Motiv für das Verhalten im Konsummarkt. Neid ist nicht eindeutig verpönt und im Kampf um Vorteile wird die Rücksichtnahme gegenüber Benachteiligten von manchen gar als Schwäche ausgelegt. Ein wohlwollendes Verhalten ist deshalb in der Praxis nicht die Regel.

Dem Zorn stehen die Friedfertigkeit und die Geduld gegenüber. So wie es jedoch einen positiv empfundenen Zorn gibt, der auf Ungerechtigkeiten reagiert, gibt es eine Eselsgeduld, die im Gegensatz zur positiven Engelsgeduld als negativ wahrgenommen wird. Als Grundhaltung handelt es sich dennoch wie bei der Demut und dem Wohlwollen um eine im Prinzip mehrheitlich akzeptierte Tugend. Dass die Wirklichkeit, etwa im Straßenverkehr oder bei den kleinen Aggressionen im Alltag, oftmals eine andere ist, wissen wir.

Als Gegenstück zur Trägheit mag auf den ersten Blick der Fleiß gelten. Versteht man Acedia als Trägheit des Herzens, erscheint der Begriff der empathischen Praxis allerdings angemessener. Acedia bleibt eine komplexe Kategorie, da sich die Abgrenzung zu Erscheinungen der Faulheit, der Depression und einer Vita contemplativa problematisch gestaltet. Tugendhafte Gegenvorstellungen zur Trägheit sind nicht so leicht zu finden. Der Begriff ist unscharf.

Dem Geiz stehen die Barmherzigkeit oder die Mildtätigkeit gegenüber. Auf den ersten Blick wirken diese Ausdrücke altbacken und verleiten dazu, als Alternative zum geizigen Verhalten Großzügigkeit zu nennen. Diese dient allerdings nicht selten dem Konsum oder der Statusgewinnung. Als positive Norm erscheint die altruistische Unterstützung gemeinnütziger Zwecke oder das soziale Engagement konsequenter. Die alten Begriffe meinen im Prinzip genau dies.

Das Gegenstück zur Völlerei bilden die Bescheidenheit oder die Mäßigung. Auch hier bleibt es schwierig, da die Völlerei, wie schon der Hochmut, der Neid und der Geiz, einen starken Motor der modernen Konsumgesellschaft bildet. Appelle an bescheidenes Verhalten wirken da schnell weltfremd, auch wenn sich die Erkenntnis mehr und mehr durchsetzt, dass die globale Zukunft nachhaltig nicht ohne Berücksichtigung einer umweltorientierten Ressourcenschonung gestaltet werden kann. Mäßigung mag sich da als eine brauchbare Orientierungsnorm erweisen.

Den Gegensatz zur Wollust stellt in der Begriffswelt traditioneller Tugenden die Enthaltsamkeit dar. Schnell wird deutlich, warum sich insbesondere die katholische Kirche mit kaum einem Thema so schwertut. Enthaltsamkeit bildet auch heute eine verbindliche Norm für Priester und, bei enger Auslegung der katholischen Morallehre, auch für alle diejenigen, die nicht mit dem Segen der Kirche als klassisch binäres Paar verheiratet sind. Die Entfernung von der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist unübersehbar. Die Regeln haben mit der Lebenspraxis, selbst der Gläubigen, in den meisten Ländern der Welt kaum mehr etwas zu tun. Und der Diversität sexueller Orientierungen wird sie überhaupt nicht gerecht.

Wollust als Sünde und Keuschheit als Tugend erscheinen in ihren traditionellen Beschreibungsformen für eine zeitgemäße säkulare Sozialethik nicht vermittelbar. Dies bedeutet jedoch keineswegs, auf eine Kritik an bestimmten Erscheinungsformen konsumerabel gemachter Sexualität zu verzichten. Der Todsündendiskurs alter Art hilft da jedoch nicht weiter. Eher ginge es darum, das Selbstbestimmungsrecht zu betonen und der machtgeleiteten Sexualität ein klares Verbot entgegenzuhalten.

***

Hochmut

Beim Hochmut wie auch bei Neid, Zorn, Trägheit, Geiz, Völlerei und Wollust handelt es sich um Verhaltensimpulse, mit denen sich Menschen zu allen Zeiten und in vielen Kulturen konfrontiert sahen. Das christliche Register der Sieben Todsünden bildet deshalb nur eines der Deutungssysteme. Auch in anderen Religionen und Mythologien gab es vergleichbare Konzepte. Die Kunst und die Literatur von der Antike bis in die Moderne spiegeln dies wider. So zählten der Hochmut und seine Folgen schon zu den zentralen Themen der griechischen Tragödie. Wer der Hybris verfällt, wird scheitern.

Der fliegende Mensch, der sich den Kräften der Erde entzieht, geht stets an die Grenzen. Schnell werden diese überschritten, sei es aus Übermut, aus dem im Sekundenbruchteil Hochmut wird, sei es, weil er die ihm auferlegten physikalischen Beschränkungen für einen Moment vergessen hat oder, so muss man heute hinzufügen, ein Flugzeugcomputer fehlerhaft programmiert war. Das aufgeblasene Bewusstsein, man schwebe über den Dingen und alles werde gelingen, bedarf schlimmstenfalls, so der Kern der griechischen Tragödie, einer Katastrophe, um auf den Boden der Tatsachen zurück zu kommen.

Dem im Labyrinth des Minotaurus auf Kreta in Verbannung lebenden Daedalus und seinem Sohn Icarus erscheint, so Ovids Geschichte, als einziger Fluchtweg die Luft. Der Analyse des Vogelflugs folgt eine Flügelkonstruktion aus Federn, die mit Schnüren und Wachs zusammengehalten wird. Daedalus zeigt sich hier als Forscher, der aus Empirie und einigen theoretischen Annahmen zur Praxis gelangt. Der kleine Icarus hingegen kann noch gar nicht verstehen, auf welches Abenteuer die Experimente des Vaters hinauslaufen, und spielt, während dieser am Werkeln ist, unbekümmert mit den Flaumenfedern und dem heißen Wachs. Sobald die Konstruktion bereit ist, zwängt sich Daedalus hinein und instruiert Icarus, es ihm gleich zu tun. Es folgt die Ermahnung, nach dem Start, dem Vater folgend, eine mittlere Flugbahn zu wählen, um dem aufgepeitschten Wasser des Meeres zu entgehen, das die Flügel beschweren würde, andererseits nicht zu hoch zu fliegen, um nicht vom Feuer der Sonne versengt zu werden. Die Flugversuche machen schnell Fortschritte, bald sind die ersten Inseln jenseits Kretas zu erblicken. Nun wird der Junge übermütig und beginnt, eine eigene Flugbahn, entfernt vom Vater, zu wählen. Toll, wie das alles klappt, frei wie ein Vogel! Die weitere Geschichte ist bekannt. Icarus fliegt zu hoch, die Hitze der Sonne lässt das Wachs schmelzen, die Federn lösen sich und es folgt der Absturz ins Meer. Icarus ertrinkt. Daedalus wird fortan seinen Forscherdrang verfluchen, der zur Fiktion geführt hatte, frei und unbekümmert wie ein Vogel fliegen zu können.

Die Moral der Geschichte betont, dass es nicht Icarus ist, dessen Hochmut zur Katastrophe geführt hat. Er war noch Kind und konnte die Konsequenzen seiner Handlungen nicht überblicken. Die tragische Gestalt ist Daedalus, der auf phantastische Weise Neues schafft, dabei jedoch in seiner Egozentrik vernachlässigt, dass der Sohn nicht in gleicher Weise in der Lage war, das richtige Maß zu erkennen und einzuhalten.

Die Fabel dient als Lehrstück für eine ausgeglichene Lebensgestaltung, die sich, so die antike Vorstellung, an den Gesetzen der Götter auszurichten habe. Geht das Gleichgewicht verloren, im übertragenen Sinne das Gleichgewicht der ethisch richtigen Lebensführung, droht der Sturz in den Abgrund. Daedalus hatte es versäumt, seiner Erzieherfunktion verantwortungsvoll nachzukommen. Stattdessen wurde die eigene Sichtweise verallgemeinert und der Erfahrungsstand unreflektiert auf den Sohn übertragen. Der eitle Forscher- und Erfinderdrang war zu mächtig gewesen. Demut und Verzicht auf Überheblichkeit, so Ovids Fazit, seien deshalb als fester Bestandteil der alltäglichen Lebensführung anzustreben.

 

Neid

Ähnlich wie bei den griechischen Dramen der Antike waren auch für Shakespeare die menschlichen Leidenschaften und Laster ein wiederkehrendes Thema. Nicht selten machte er sich in Komödienform über die kleinen und größeren Nicklichkeiten des Lebens lustig, bestimmte Konflikte und Intrigen jedoch forderten das Format der Tragödie. Neben Hamlet, King Lear und Macbeth ist dies nicht zuletzt beim Othello der Fall, dem klassischen Lehrstücke zum Thema Neid und Eifersucht.

Auf der Theaterbühne beansprucht in der Regel die titelgebende Rolle die stärkste Präsenz. Die übrigen Figuren dienen mit einem deutlich geringeren Sprechanteil meist eher der Nuancierung der Hauptperson. Nicht so beim Othello. Mindestens gleichwertig zur Titelrolle, wenn nicht gar spielentscheidend, stellt sich Jago dar, der Intrigant und Treiber der Handlung. Den Höhepunkt des Dramas bilden die Ermordung Desdemonas durch Othello und dessen anschließender Freitod. Die vorangegangenen Bosheiten Jagos geben dem Stück jedoch die eigentliche Prägung. Es ist eine Geschichte von verletzter Eitelkeit, Neid und Eifersucht.

Der Soldat Jago ist verärgert, weil er vom Heerführer Othello bei einer Beförderung zugunsten Cassios übergangen wurde, und sinnt auf Rache. Dem reichen venezianischen Geschäftsmann Brabantio lässt er einreden, dessen Tochter Desdemona habe ein heimliches, unehrenhaftes Verhältnis mit Othello. Brabantio sucht nach Wegen, diesen dafür ins Gefängnis werfen zu lassen. Währenddessen treibt Jago ein doppeltes Spiel, indem er Othello scheinheilig vor dem hinterlistigen Brabantio warnt, der ihm Schaden zufügen wolle. Brabantio wendet sich an den Senat der Stadt. Dieser will jedoch aufgrund des bevorstehenden Angriffs einer feindlichen Flotte nicht vom erfolgreichen Feldherrn Othello abrücken und stellt die Staatsraison über die persönliche Fehde. Hinzu kommt, dass Desdemona als Zeugin geladen wird und zur Überraschung aller die heimlich geschlossene Verlobung mit Othello bestätigt. Jagos Intrige ist damit im ersten Anlauf gescheitert und seine Rachegelüste haben keine Befriedigung gefunden.

Die Kriegsschlacht bleibt aus, da die feindliche Flotte im Sturm zerstört wird. Othello ist weiterhin bewunderter Feldherr und wird vom Volk verehrt. Cassio preist in einer Feier überschwänglich auch Desdemona. Jago verbreitet daraufhin das Gerücht, dieser sei verliebt in die Braut des Heerführers und verleitet Cassio zum Genuss von Wein, den er nicht verträgt. Im betrunkenen Zustand wird Cassio seinen Dienstpflichten nicht gerecht und Othello degradiert ihn. Aber das genügt Jago nicht. In einem weiteren Doppelspiel schlägt er nun Cassio vor, Desdemona zu bitten, bei Othello ein gutes Wort für ihn, Cassio, einzulegen. Sie sagt dies zu. Othello reagiert ungehalten und deutet die Bitte aufgrund der von Jago gestreuten Gerüchte als Beweis für eine heimliche Liebschaft Desdemonas mit Cassio. Sein eifersüchtiger Zorn steigert sich zur Gewalt, die Desdemona schließlich das Leben kostet. Othello begreift erst danach, dass er einer Intrige zum Opfer gefallen ist, und nimmt auch sich selbst das Leben.

Shakespeares Stück lebt von verletzten Eitelkeiten, Neid und Eifersucht. Jeder gegen jeden, so lassen sich die Intrigen zusammenfassen. Der auf- und abgeklärte Gegenwartsmensch hat mit solchen Dingen natürlich nichts mehr zu tun. Oder vielleicht doch? In der Managementlehre handelt es sich beim Othello-Syndrom um ein bekanntes Phänomen. Vorgesetzte mit mangelndem Selbstvertrauen neigen nicht selten zu Eifersüchteleien, die für die Mitarbeitenden zur Qual werden. Die Angst, dass die eigene Position von Konkurrenten bedroht werden könnte oder Nachgeordnete über bessere Fachkenntnisse verfügen, löst destruktive Reaktionen aus. Vermeintliche Nebenbuhler werden nicht über Sitzungstermine informiert, es werden Gerüchte über charakterliche Unzulänglichkeiten in Umlauf gebracht oder Kollegen werden mit überkritischen Augen betrachtet, um jeden kleinsten Fehler aktenkundig zu machen. Die Folgen von Neid und Eifersucht zählen in vielen Organisationen zu Elementen der informellen Struktur.

 

Zorn

Wer da zürnt, wo der Anlass und die Personen den Zorn rechtfertigen, wer in der rechten Weise, zur rechten Zeit und die rechte Zeitdauer hindurch zürnt, dessen Verhalten findet Billigung. ... Die Entscheidung darüber, auf welche Weise, welchen Personen, aus welchem Anlass, wie lange Zeit man zürnen soll, und wo die Grenze liegt zwischen dem richtigen und dem falschen Verhalten, lässt sich nicht leicht treffen. ... Soviel geht aus alledem mit Sicherheit hervor, dass die Charaktereigenschaft, die Mitte innezuhalten, diejenige ist, nach der man zu streben hat. Das Zitat stammt von Aristoteles und findet sich in der Nikomachischen Ethik.

Das rechte Maß zu finden, bestimmte schon die Geschichte von Daedalus und Icarus. Wer vom Mittelweg abweicht, läuft Gefahr zu scheitern. Ähnliches zeigt sich bei der Polarität zwischen dem gerechten und dem ungerechten Zorn. Aristoteles hat es prägnant zusammengefasst. Mehr als zweitausend Jahre später griff Heinrich von Kleist in der Geschichte vom Pferdehändler Michael Kohlhaas das Thema auf und zeigte, wie sich aus einem legitimen, nachvollziehbaren Zorn eine Tragik entwickeln kann, die zur tödlichen Wut wird.

Grundlage ist eine historische Begebenheit aus dem 16. Jahrhundert, in dem Kleist seine Erzählung ansiedelt. Auf dem Weg des Pferdehändlers zum Markt in Sachsen werden vom Feudaljunker Wenzel von Tronka mit willkürlicher Begründung zwei Rappen einbehalten, die Kohlhaas bei der Abholung einiger Zeit später völlig abgemagert und entkräftet vorfindet, da sie zwischenzeitlich zur harten Feldarbeit eingesetzt worden waren. Eine juristische Klage gegen das Unrecht scheitert. Der nachvollziehbare Zorn wandelt sich in der Folgezeit in wilde Wut. Kohlhaas tötet mit einem Trupp Aufsässiger alle Bewohner der Burg Tronkas und wütet auch in der Stadt Wittenberg. Nach einem von Martin Luther beim sächsischen Kurfürsten erwirkten freien Geleit erhält Kohlhaas aufgrund des erlittenen Unrechts hinsichtlich seiner Pferde gleichwohl die Möglichkeit, die Klage erneut vor Gericht zu bringen. In Dresden unter Hausarrest gestellt, ergibt sich eine Möglichkeit zur Flucht. Diese misslingt, Kohlhaas wird verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Nun kommt die große Politik ins Spiel. Der brandenburgische Kurfürst stellt sich gegen Sachsen und auf die Seite von Kohlhaas. Tronka wird zum Schadenersatz verurteilt, Kohlhaas selbst erhält jedoch wegen Aufruhrs die Todesstrafe. Vor der Hinrichtung bietet sich eine letzte Gelegenheit zur Rache, denn Kohlhaas verfügt, so wird vom Volksmund kolportiert, über ein besonderes Wissen hinsichtlich der Zukunft des Kürfürstentums Sachsen. Das Schriftstück mit einer Prophezeiung zu dessen Untergang wird vom Todgeweihten kurz vor der Hinrichtung in den Mund gesteckt und verschluckt. Dem sächsischen Kurfürst verbleibt die Unsicherheit hinsichtlich des eigenen Verderbens. Er bricht ohnmächtig, machtlos gegenüber diesem letzten Akt der Revolte, zusammen.

Der Wandlungsprozess vom gerechten Zorn zur tödlichen Wut ist nur eines der Themen in Kleists Geschichte. Hinzu kommen der Konflikt mit dem feudalen Herrschaftssystem, die Selbstjustiz als Antwort auf institutionalisierte Ungerechtigkeiten sowie die Frage des staatlichen Gewaltmonopols in der Transformationsphase zur bürgerlichen Zivilgesellschaft. Heinrich von Kleist schreibt das Werk in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts, also nach der Französischen Revolution, aber noch vor den bürgerlichen Freiheitsbewegungen in Deutschland. Das Stück ist als politische Botschaft zu verstehen. Die Verkürzung auf eine Psychologie des Zorns wäre unzureichend. Eher sind es die Gerechtigkeitsfragen, die sich mit den Handlungen der Akteure verbinden. Tronka ist im Unrecht, Kohlhaas erlebt seinen Zorn zu Recht. Der Widerstand gegen die feudale Herrschaft und ihr Rechtssystem steigert sich zu einer Revolte, die zunächst freiheitlich gesonnene Anhänger findet, dann jedoch zur wütenden Gewaltorgie und zum Unrecht wird. Kohlhaas akzeptiert deshalb die Todesstrafe und erkennt das staatliche Gewaltmonopol an, da es auf einem gerechten Verfahren beruht. Die Rache am Kurfürsten ist eine andere Geschichte.

 

Trägheit

Nicht selten wird Trägheit schöngeredet als passiver Widerstand gegen die Forderungen der Leistungsgesellschaft oder als Erscheinung feingeistiger Kontemplation. Aber es gibt eben auch jene nervende Antriebslosigkeit, der Iwan Gontscharow mit dem Roman Oblomow ein literarisches Denkmal gesetzt hat. In der Psychiatrie wurde seine Titelfigur gar zum Namensgeber eines Trägheitssyndroms. Dieses ist jedoch nicht in jedem Fall Ausdruck einer depressiven Erkrankung, sondern lässt sich auch als Phänomen einer kulturell geformten, dem Zeitgeist geschuldeten Dispositionen verstehen.

Ilja Iljitsch Oblomow, ein russischer Adliger des 19. Jahrhunderts, verbringt sein Leben weitgehend im Schlafrock und auf dem Diwan. Die ersten Seiten des Buches handeln überwiegend von morgendlichen Reflexionen, die zunächst Pläne für den Tag beinhalten, dann jedoch, wieder einmal, mit dem Verbleib im Bett enden. Charakter und Physiognomie Oblomows, so Gontscharow gleich zu Beginn des Romans, bilden eine Einheit:

Er war ein Mann von zwei- oder dreiunddreißig Jahren, von mittlerer Statur und angenehmem Äußern, mit dunkelgrauen Augen; aber seine Gesichtszüge zeigten einen Mangel an jeder bestimmten Idee und an jedem regen Interesse. Ein Gedanke flog wie ein freier Vogel über sein Gesicht, flatterte in den Augen umher, setzte sich auf die halbgeöffneten Lippen, versteckte sich in den Falten der Stirn, ging darauf ganz verloren, und dann verbreitete sich über sein ganzes Gesicht die warme, gleichmäßige Helle der Sorglosigkeit. Von dem Gesichte ging diese Sorglosigkeit auf die Haltung des ganzen Körpers über, sogar auf die Falten des Schlafrocks.

Oblomows Leben scheint geprägt von jener dekadenten Haltung des materiell abgesicherten Adligen, der sich das Nichtstun gut leisten kann und nicht viel für seinen Lebensunterhalt tun muss. Intellektuell sensibel und von moralischen Standards geleitet, führt die Abwärtsspirale der sich selbst verstärkenden Trägheit jedoch immer tiefer in eine Scheu vor Verantwortung. Lieber nichts tun, als etwas für die Vermeidung des Scheiterns unternehmen. Das hat zwar potentiell eine Unzufriedenheit mit sich selbst und der Welt zur Folge, aber mit guter Speise und Wein lässt sich diese Empfindung immer wieder aufs Neue, zumindest ein wenig und auch nur eine Zeit lang, betäuben. Nachhaltig ist dies jedoch nicht. Beziehungen scheitern, dann rächt sich auch materiell das faule Leben, schließlich führt die Bewegungslosigkeit zu Krankheiten und zum Schlaganfall. Die Lethargie und die vordergründige Sinnlosigkeit des Lebens finden im Tod Oblomows ihren Abschluss.

Natürlich lässt sich Gontscharows Roman gesellschaftskritisch deuten. Bezüglich der feudalen russischen Elite im 19. Jahrhundert gibt es hierfür gute Gründe. Die bis heute vorherrschende Wirkungsgeschichte nimmt jedoch psychogrammartig eher das Trägheitsmoment der Titelfigur ins Visier, als dass sie sich der gesellschaftskritischen Metabetrachtung widmet. In die Gegenwart übertragen, macht aber gerade die Herstellung von Wechselbeziehungen zwischen individueller Trägheit und kulturell angebotenen Trägheitsmustern Sinn. Apathie, die zum Leben auf der Couch führt, und Willensschwäche, die aus vermeintlicher Perspektivlosigkeit resultiert, bilden auch heute die eine, in der Regel kritisch konnotierte, Seite. Andererseits gibt es eine Reihe von Projektionen, die, losgelöst von Oblomows feudalem Kontext, insgeheim das von ihm realisierte Ideal des leistungsverweigernden Müßiggängers betonen.

Oblomows Leben schien standesgemäß vorgezeichnet. Beruf und Karriere waren prägende Motive, aber bald schon stellt sich Unbehagen ein beim Gerangel in der Konkurrenzgesellschaft mit ihren Zwängen und Heucheleien. Überdruss und Erschöpfung breiten sich aus, das Bedürfnis nach Rückzug wächst. Anders als beim modernen Menschen, dem beständig Angebote zur Verfügung stehen, um der Müdigkeit zu entgehen, und der mit Sport, Unterhaltung und stimulierenden Substanzen seine Lebensaktivitäten optimiert, geht Oblomow den entgegengesetzten Weg und entzieht sich den Anforderungen. Das hat auch etwas Rührendes an sich. Ähnlich wie beim Don Quijote ist man bei der Lektüre hin- und hergerissen zwischen dem Stöhnen über die Weltfremdheit des Helden und seiner Tragik. Beide Figuren erweisen sich als moralisch integre Gestalten ohne Hinterhältigkeiten oder unlautere Absichten. Oblomow will keinem etwas Böses antun. Leben und leben lassen sind ihm wichtiger als ein pädagogischer Zeigefinger oder Weltverbesserungsmissionen. Und er empfindet Abscheu für Lügen und Ungerechtigkeiten.

Oblomow gleicht einem modernen Menschen, dem die mittelalterliche Angst vor der Acedia fremd geworden ist. Für frühere Mönche war Trägheit noch Teufelszeug gewesen. Sie fürchteten wenig mehr als den Überdruss an der Einsamkeit oder die mittägliche Erschöpfung, wenn sich im Dämmerzustand allerlei unkontrollierbare Gedanken und Phantasien einstellten, denen mit scholastischer Logik oder Beten nicht beizukommen war. Man muss das ernstnehmen: Sexuelle Phantasieträume kurz vor dem Erwachen waren für einen mittelalterlichen Mönch nichts anderes als Hinweise auf das Wirken des Teufels. Deshalb besser wenig, dafür umso tiefer schlafen und nach dem Erwachen sofort aufstehen.

Mit der Aufklärung änderten sich die Umstände und die Begründungen für das Verbot von Trägheitsneigungen. An die Stelle des Teufels rückte die Vernunft als neue Herrscherin. Das tätige Leben, die aktive Gestaltung der Natur, das Carpe diem, die protestantische Ethik und allerlei moderne Aktivitätsimperative forderten von nun an den handlungswilligen Menschen. Wer dem nicht folgte und am Ende des Tages kein Ergebnis vorzuweisen hatte, erhielt im 19. Jahrhundert schnell das Label Neurasthenie verpasst. Später kamen andere Bezeichnungen hinzu, die Diagnose Burn-out gehört zu den aktuellen Varianten. In Gestalt des Chillens steht zwar auch gegenwärtig ein sozial zulässiges Untätigkeitsmuster zur Verfügung, aber mit der Vita contemplativa im ursprünglichen Sinn hat dies nicht viel zu tun.

 

Geiz

Begibt man sich in der Literatur oder im Theater auf die Suche nach der Darstellung des Geizigen, kommt man an Molière kaum vorbei. Dessen berühmteste Komödie wurde erstmals 1668 aufgeführt und gehört bis heute zum Standardrepertoire vieler Bühnen. Auch wenn die Handlung in einer uns fremd gewordenen Zeit spielt, sind die Charakterzüge Harpagons, der reichen und überaus geizigen Hauptfigur, in nahezu idealtypischer Form mit Wiedererkennungseffekt gezeichnet.

Neben der Angst, seine im Garten vergrabene Geldkassette könnte gefunden und gestohlen werden, macht sich Harpagon Tag und Nacht Gedanken um die Heiratswünsche der beiden Kinder. Schließlich kann eine Hochzeit teuer werden und obendrein droht die Last einer Mitgift für die Tochter. Am besten wäre es, wenn diese einen vermögenden Greis ehelichen würde, das spart Geld, und wenn der Sohn statt der Auserwählten, für die sich Harpagon im Übrigen selbst interessiert, eine reiche Witwe heiratet. Allerlei Intrigen und Verwicklungen folgen, Harpagons Plan geht jedoch nicht auf. Der Sohn und seine Auserwählte finden zusammen. Auch die Tochter landet am Ende in den Armen des heimlich schon immer Geliebten. Vermischt wird die zweifache Paarungsstory mit einer wirren Geschichte um die gestohlene Geldkassette. Am Ende befindet sich diese zwar wieder im Besitz Harpagons, allerdings hat er es sich mit allen verdorben und bleibt einsam auf seinem Vermögen sitzen. Der Geiz Dagobert Ducks erscheint im Vergleich zu dem Harpagons fast schon liebenswert.

Molière hat das Stück mit hoher Dynamik und großem Sprachwitz angelegt. Einige ausgewählte Textstellen zeigen dies.

Hier die Klage des Sohnes im Gespräch mit der Schwester: Sag selbst, kann man sich etwas Grausameres denken als die harte Sparsamkeit, die man gegen uns ausübt, und die unerhörte Dürftigkeit, in der wir schmachten müssen? – Wozu hilft uns unser Vermögen, wenn es uns erst in einer Zeit zufällt, wo wir nicht mehr in den schönen Jahren sind, es genießen zu können? ... Lass uns ihm beide entfliehen und uns von der Tyrannei frei machen, in der sein unerträglicher Geiz uns schon so lange gekettet hält.

Nun ein Dialog zwischen dem Bediensteten La Fléche und Harpagon, der die Wahrheit partout nicht hören will: La Fléche: Ich sage: wenn doch der Teufel den Geiz und alle Geizhälse holte! Harpagon: Wen meinst du damit? La Fléche: Die Geizhälse. Harpagon: Und wer sind denn die Geizhälse? La Fléche: Die schmutzigen Knicker und schäbigen Filze. Harpagon: Aber auf wen geht das alles? La Fléche: Was kümmert das Euch? Harpagon: Ich kümmere mich um was mir gut dünkt. La Fléche: Glaubt ihr etwa, ich rede von Euch? Harpagon: Ich glaube was ich glaube, aber du sollst mir sagen, zu wem du das alles sprichst? La Fléche: Ich spreche … ich spreche mit meiner Mütze. Harpagon: Nimm dich in acht! oder ich werde mit deinen Ohren sprechen. La Fléche: Wollt Ihr mir wehren, die Geizhälse zu verwünschen? Harpagon: Nein; aber ich werde dir's wehren, unverschämtes Zeug zu schwatzen! Schweig!

Eine Anweisung Harpagons gegenüber seinen Dienern: Euch, Brind' avoine und Euch, La Merluche, euch übertrage ich das Amt, die Gläser zu schwenken, und bei Tisch einzuschenken, aber nur, wenn einer Durst hat, und nicht, wie so oft die impertinenten Schlingel von Lakaien es machen, die die Gäste ordentlich zum Trinken auffordern, und sie drauf bringen, wenn sie gar nicht daran dachten. Wartet immer, bis ihr zweimal gerufen seid, und vergesst mir nicht, gehörig Wasser dazu zu gießen. ... Wir werden unser acht oder zehn sein; rechnen wir aber nur acht. Wenn für acht zu essen ist, haben auch zehn genug. ... Wir müssen Gerichte nehmen, von denen man wenig isst, und die gleich satt machen; so etwa eine gute Schüssel recht fette weiße Bohnen, und dazu eine Topfpastete mit recht viel Kastanien darin.

Auch der Bedienstete Jacques bringt den Geiz Harpagons unumwunden zur Sprache: Von allen Seiten bekommen wir Sticheleien über Euren Geiz zu hören, und die Leute finden ihr Hauptvergnügen daran, Euch durchzuhecheln, um sich immer neue Geschichten von Eurer Knauserei zu erzählen. Der eine spricht, Ihr ließet aparte Kalender drucken, in denen die Quatember und die Fasttage doppelt ständen, damit Eure Dienstboten weniger zu essen bekämen; ein anderer behauptet, Ihr hättet zur Zeit des Gesindewechsels oder um Neujahr stets einen Streit mit ihnen parat, um Euch die Geschenke zu sparen. ... Kurz, wenn Ihr's denn wissen wollt, man kann sich nirgends blicken lassen, wo man Euch nicht heruntermachen hört. Ihr seid die Fabel und der Kinderspott der ganzen Stadt, und heißt bei den Leuten nicht anders als der Geizteufel, der Knicker, der Filz und der Pfandwucherer.

Abschließend Harpagon selbst beim vorübergehenden Verlust seiner Geldkassette: Ach, mein liebes Geld, mein liebes Geld, mein einziger Freund! Dich haben sie mir genommen, du bist mir entführt, und mit dir habe ich meinen Stab, meinen Trost, meine Freude verloren; es ist aus mit mir, und ich habe nichts mehr auf dieser Welt zu tun. Ohne dich kann ich nicht leben; ich bin hin, ich kann nicht mehr; ich sterbe, ich bin tot, ich bin begraben. Will mich denn niemand wieder aufwecken und mir mein liebes Geld wiedergeben, oder mir sagen wer's genommen hat?

Die Textausschnitte gehen auf die Übersetzung von Wolf Heinrich Graf von Baudissin aus dem Jahr 1887 zurück.

 

Maßlosigkeit

Völlerei bei Tisch steht seit jeher für Maßlosigkeit, aber indirekt auch als Zeichen für Lebensüberdruss. Eine sich ausbreitende Sinnlosigkeit sucht nach Kompensation in Form von Genussorgien, deren Dosis aufgrund leidiger Abnutzungseffekte beständig erhöht werden muss. Extensive Bedürfnisbefriedigung und subkutane Todessehnsucht gehen eine Verbindung ein, deren Dynamik, ist sie erst einmal in Gang gebracht, kaum noch aufzuhalten ist. Der Kinofilm Das große Fressen aus dem Jahr 1973 hat dem Verfall allegorisch ein Denkmal gesetzt.

Im Rahmen eines Wochenendgelages im Landhaus vermischen sich obszöne Fressorgie und intermittierende sexuelle Ausschweifungen. Initiatoren sind vier erfolgreiche Männer, deren Runde durch drei bestellte Prostituierte sowie die eher zufällig hinzukommende Andrea ergänzt wird. Zunächst entwickeln sich die Dinge wie nach einem herkömmlichen Drehbuch: Sex in unterschiedlichen Konstellationen sowie Speise und Trank vom Feinsten, aber vor allem reichlich. Als Folge wird gekotzt und das Klo ist im Dauerbetrieb. Den Prostituierten wird die Fresserei schließlich zu viel und eine nach der anderen verlässt die Runde. Übrig bleiben neben Andrea die vier lebensüberdrüssigen Kerle, die in der Folge auf unterschiedliche Weise zu Tode kommen. Marcello gibt vor, die Runde verlassen zu wollen, erfriert dann jedoch in der kalten Nacht am Steuer seines Bugatti, ohne den Wagen gestartet zu haben. Michel erliegt seinen Blähungen, er platzt geradezu innerlich. Ugo verendet beim Genuss einer riesigen Pastete und Philippe schließlich stirbt beim Anblick neu gelieferter Speisen in den Armen Andreas.

Eines der vorherrschenden Motive der Todessüchtigen ist die Langeweile. Beruflich erfolgreich und so saturiert, dass sich Glücksgefühle nur noch selten einstellen, bildet die Suche nach dem ultimativen Kitzel den Einstieg in den kollektiven Suizid durch Völlerei. Auch Andrea, von Beruf Lehrerin, schließt sich dem dekadenten Treiben an. Aber sie belässt es beim Ausleben ihrer sexuellen Phantasien, ohne sich vollständig der Agonie hinzugeben.

Teile des Publikums waren bei der Kinopremiere empört. Auslöser waren nicht so sehr die Exkremente oder die Kotzerei und schon gar nicht eine Empörung aufgrund der gezeigten sexuellen Ausschweifungen. Aber es gab keine positive Identifikationsfigur, mit der man sich durch den Ekel hätte retten können. Hinzu kam, dass als suizidales Hilfsmittel keine klassischen Drogen dienten, sondern eine übervolle Tafel, und das im Land der Feinschmecker. Und schließlich war da diese unendliche Langeweile, die einen empfindlichen Nerv des saturierten, nihilistischen Bürgertums traf. Die geplatzte Toilette und die herausgeschleuderten Exkremente bildeten da nur noch den allegorischen Höhepunkt einer sinnentleerten Völlerei.

 

Ausschweifung

Wollust, Pornografie, Sexualität – alle Versuche einer Abgrenzung erweisen sich als schwierig, da die Begriffe mit ihren Konnotationen stets Ausdruck eines kulturgebundenen Verständnisses, also wandelbar sind. Häufig sind es lediglich Nuancen, die zu der einen oder anderen Klassifikation des Verhaltens führen. Die Einreihung der Wollust unter die Sieben Todsünden steht deshalb unter dem Verdacht, dass hier alles in einen Topf geworfen wird. Am Beispiel des Lebens und der Schriften des Marquis de Sade wird deutlich, wie schwer es ist, klare Unterscheidungen vorzunehmen.

Das Paris der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war Spielwiese einer der schillerndsten Gestalten aus der Welt der Lüste. Und das mit Nachwirkung, denn der adlige Marquis de Sade sollte die medizinische Psychopathia sexualis und selbst die Psychoanalyse späterer Jahrzehnte nachhaltig beeinflussen und beeindrucken. Sadismus und Sadomasochismus als klassifizierende Schubladen für explizite Sexualpraktiken gehen direkt auf sein Repertoire zurück. Als Projektionsfläche für allerlei Phantasien und Ängste ist der Marquis deshalb bestens geeignet. Kein Wunder, dass er bis in die Gegenwart entweder als radikaler Aufklärer geschätzt wird, der, ähnlich wie Nietzsche, den von Menschen selbst geschaffenen Zwangscharakter jeglicher Moral demaskierte, oder den man als sexbesessenen Gewalttäter verurteilt.

Der Marquis de Sade trieb die zu seiner Zeit in adligen Kreisen durchaus lockeren Sitten so auf die Spitze des Anrüchigen, dass man die Dinge nicht mehr mit wegblickender Doppelmoral ignorieren konnte und sich stattdessen zum Handeln gezwungen sah. Ausschweifende Orgien, Misshandlungen und Vergewaltigungen brachten de Sade mehrfach ins Gefängnis, der Vollstreckung eines Todesurteils konnte er sich nur durch Flucht entziehen. Die Rückkehr nach Paris im Jahr 1777 führte zur erneuten Verhaftung, das Todesurteil wurde allerdings aufgehoben. Während der Festungshaft in der Bastille konzentrierten sich seine Interessen notgedrungen auf das Schriftstellerische. Die Jahre nach der Revolution 1789 bis zum Tod de Sades 1814 waren gekennzeichnet durch eine vorübergehende Entlassung, dann die erneute Verhaftung und schließlich die endgültige Einweisung in die Irrenanstalt Charenton.

Neben verschiedenen Bühnenstücken sowie philosophischen und literarischen Traktaten entstanden in der Gefängniszeit Die 120 Tage von Sodom. Das unvollendet gebliebene Romanfragment sollte allerdings erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt werden und später durch Pasolinis filmische Adaption in den siebziger Jahren eine gewisse Breitenwirkung erlangen. Die Orgien sexueller Praktiken aller Spielarten und die Gewaltexzesse gegenüber einer sklavenähnlich gehaltenen Gruppe junger Frauen und Männer vereinen unterschiedliche Triebphänomene in einer Weise, die von de Sade als Privileg Auserwählter betrachtet wurde. Wer die Macht besitzt, habe auch das unbedingte Recht auf eine Durchsetzung des eigenen Hedonismus. Lust und Schmerz galten de Sade als Partner, die sich wechselseitig anstacheln. Das nimmt auf der einen Seite Themen vorweg, die später von der Tiefenpsychologie als Hinweise auf die mitunter exotisch erscheinende Bandbreite menschlichen Sexualverhaltens aufgegriffen wurden. Andererseits jedoch müssen sie mit kritischem Blick als Erscheinungen asymmetrischer Macht- und Herrschaftsverhältnisse gedeutet werden.

Der Marquis macht es einem nicht leicht. Oder vielleicht doch? Die Entmoralisierung des Sexuellen mag Aspekte aufklärerischen Denkens beinhalten. So werden Bisexualität und Homosexualität von de Sade kompromisslos als gleichberechtigt zur gesellschaftskonformen Heterosexualität betrachtet. Auch die Befreiung diverser, nicht unbedingt alltäglicher Sexualpraktiken aus den Schmuddelecken des Verruchten greift den Alleinvertretungsanspruch der konventionellen Mehrheitsmoral an. Schließlich ist es der Hinweis auf die Macht unbewusster Triebimpulse, durch die sich die Rationalitätsforderung der Aufklärung mit Phänomenen konfrontiert sah, die nicht kompatibel waren zum neuen Menschenbild und dessen letztlich unerfüllt bleibenden Erwartungen hinsichtlich einer umfassenden Kontrollierbarkeit der äußeren und inneren Natur. Der Mensch bleibt eben, auch, ein Tier.

Dies alles kann jedoch nicht ausreichen, um de Sade als frühen Kritiker der unausgesprochenen Voraussetzungen der Aufklärung zu loben, wozu etwa Fromm, Adorno oder Horkheimer neigten. Dazu sind de Sades Sexualaktivitäten und Schriften zu sehr geprägt durch asymmetrische Gewalt-, Macht- und Herrschaftsphantasien. Das hätten auch die Kritischen Theoretiker sehen müssen. De Sade überschreitet letztlich jene Grenzlinie, hinter der bestimmte Erscheinungsformen des sexuellen Verhaltens dem Bereich des Totalitären zuzuordnen sind. Man mag das heute vielleicht nicht mehr Todsünde nennen. Wenn jedoch die Praktiken des Wollüstigen, Pornografischen oder allgemein Sexuellen nicht auf der Freiwilligkeit der Beteiligten, sondern auf Macht und auf Abhängigkeitsverhältnissen beruhen, gibt es keine vernünftigen Gründe für eine Glorifizierung.

Die von de Sade beschriebenen Rollenmuster der Wollust, denen es an symmetrischer Freiwilligkeit mangelt, sind als Orientierungsatlas des Sexuellen aus heutiger, emanzipativ aufgeladener Sicht ungeeignet. Mit Aufklärung haben sie jedenfalls nichts zu tun. Da ist uns Kants Kategorischer Imperativ sympathischer, da hier das Prinzip der Symmetrie der sozialen, also auch sexuellen Beziehungsmuster, eine wesentliche Orientierung darstellt. Dass diese Muster Sadistisches und Masochistisches einbeziehen können, ist nicht auszuschließen, aber es setzt eben stets das herrschaftsfrei ausgesprochene Einverständnis der Beteiligten voraus. Genau dies ist bei de Sade nicht der Fall.

***

Schluss

Das Konzept der Sieben Todsünden weist zahlreiche Unschärfen und Ambivalenzen auf. Vor allem der veraltet anmutende Beiklang hindert viele daran, sich näher mit ihm zu befassen. Die Begrifflichkeit scheint zu sehr mit Vorstellungen eines metaphysischen Fegefeuers verbunden zu sein, als dass sie zur diskursiven Beschäftigung einlädt.

Superbia

Der ursprünglich mittelalterliche Kontext hat hier und dort, so scheint es, die inhaltliche Reflexion aufgrund einer subkutanen inneren Abwehrhaltungen erschwert oder gar verhindert. Mit alten Kirchendogmen, mit Sünde und Teufel will man nichts mehr zu tun haben. Dabei wird leicht übersehen, dass in Teilen der Gegenwartskultur Rudimente genau dieser Normen weiterhin eine Rolle spielen, häufig zwar in anderer Erscheinungsform als in früheren Zeiten, aber durchaus wirkungsvoll. Dass es dabei zu einer Umkehrung alter Verbote in ihr Gegenteil kommt, macht die Sache nicht leichter. So bilden Habsucht, Neid oder Maßlosigkeit im Rahmen der Gegenwartsmoral nicht eindeutig negativ konnotierte Verhaltensattribute, sondern sie sind gleichzeitig auch wesentliche Triebkräfte der umsatzorientierten Warenwirtschaft. Das kapitalistische Prinzip ist ohne das massenhafte Habenwollen begehrter Konsumprodukte kaum vorstellbar.

Invidia

Nahezu alle der Sieben Todsünden, wir bleiben jetzt trotz der damit verbundenen Schwierigkeiten bei dieser Bezeichnung, weisen einen ambivalenten Doppelcharakter auf. Einerseits werden sie verurteilt oder als unangenehme Charaktereigenschaften anderer betrachtet, andererseits jedoch, mitunter zwar nur heimlich oder verschämt, werden sie geschätzt. Alles Verbotene reizt schließlich in besonderer Weise. Wer sich etwa hochmütig verhält, erhält schnell das Label eines Angebers aufgedrückt. Gleichzeitig werden mediale Superstars gerade aufgrund ihrer arroganten, coolen Frechheiten und ihrer grenzenlosen Egozentrik bewundert. Sie bieten sich als Projektionsfläche für heimliche, meist unerfüllt bleibende Omnipotenzphantasien hervorragend an.

Ira

Ähnliches gilt für Neid und Geiz, verstanden als Verwandte der Habsucht. Der Vergleich mit den Konkurrenten im Attraktivitätswettbewerb sowie das Übertrumpfenwollen anderer sind zentrale Motive einer kollektiven Konsumhysterie. Man will haben, was auch der Nachbar besitzt oder die Werbung als ein unbedingtes Muss suggeriert. Schwieriger wird es beim Zorn. Selbstbeherrschung als Ausdruck eigener Autarkie, die in sich ruht und keine Störungen durch andere zulässt, ist die eine, geschätzte Seite. Zorn passt da nicht. Daneben gibt es jedoch die Idee eines legitimen Zorns, der auf Ungerechtigkeiten reagiert oder sich gegen Unterdrückung wehrt. Man darf deshalb, im richtigen Kontext, durchaus zornig sein. Auch mit der Trägheit ist es so eine Sache. Gemessen am calvinistischen Arbeitsethos gilt sie aufgrund der Nichtnutzung von Möglichkeiten als Verschwendung von Ressourcen. Andererseits ist es in der Gegenwartskultur schwierig geworden, zwischen sinnlicher Kontemplation und antriebsloser Faulheit zu unterscheiden. Ist man auf dem Sofa jetzt gerade weise oder träge? Darüber hinaus darf die notwendige Abgrenzung zu depressiven Krankheitsbildern nicht vernachlässigt werden. Wer real nicht über die innere Freiheit verfügt, sich zwischen trägem und aktivem Verhalten zu entscheiden, dem können keine moralischen Vorhaltungen gemacht werden.

Acedia

Auch die Völlerei ist eine komplexe, ambivalente Angelegenheit. Während das vorherrschende Schönheitsideal durch Schlankheit, Fitness und ewige Jugend geprägt ist, stopfen wir uns, kollektiv betrachtet, mit allen möglichen Dingen voll und verschlingen in den Wohlstandsgesellschaften unendliche Mengen an billigen oder, häufig mit ressourcenverschlingendem Aufwand hergestellten, teuren Produkten. Was für die einen die Chips auf dem Sofa, sind für andere die eingeflogenen Austern oder das Kobesteak handmassierter Edelrinder. Die Grenze zwischen Genuss und Dekadenz ist fließend. Die Wollust als letzte der traditionellen Sünden macht es uns aus heutiger Sicht am schwierigsten. Kirchliche Dogmen spielen hier bis in die Gegenwart eine unrühmliche Rolle, und alles, was mit repressiver Sexualmoral zu tun hat, muss sich zu Recht eine kritische Würdigung gefallen lassen. Dass sich auf der anderen Seite in den letzten Jahrzehnten unter dem Vorzeichen einer vermeintlich freien Sexualmoral Dinge ereignet haben, die nichts anderes als Ausdruck asymmetrischer, vergewaltigender Beziehungsmuster sind, ist die andere Seite. Der Umgang mit der Wollust ist deshalb eine Gratwanderung, bei der sowohl die eigene Entfaltung wie der kommunikative Aspekt der Aushandlung des wechselseitig Akzeptierten zu berücksichtigen sind.

Avaritia

Dass die fragmentarischen Anmerkungen bei der Komplexität der Thematik impressionistisch bleiben, war von vorneherein klar. Dennoch zeigt sich am Ende ein Ergebnis mit vielleicht heuristischem Wert. Nimmt man die Begrifflichkeiten des alten Konzeptes der Sieben Todsünden und löst sie aus dem ursprünglichen Kontext, um nach ihrer Bedeutung als Diskussionsbeitrag für eine zeitgemäße Sozialethik zu fragen, eröffnen sich Diskursräume, die sich weiterverfolgen lassen.

Gula

Hinter einigen der alten Sündenregister verbergen sich normative Vorstellungen, die grundsätzlich auch im Rahmen einer modernen Ethik ihre Berechtigung haben, da grenzenlose individuelle Freiheit kollektiv nun einmal nicht vorstellbar ist. Jedes Sozialsystem benötigt beschränkende Regeln. Das pauschale, vorschnelle Abtun sämtlicher Todsünden als mittelalterliche Dogmatik wäre deshalb keine intellektuell besonders anspruchsvolle Haltung. Der Verdacht, dass auf diese Weise eine Auseinandersetzung mit eigenen Impulsen vermieden werden soll, liegt nahe.

Luxuria

Es darf vermutet werden, dass nur wenige von uns gänzlich frei sind von Erscheinungen des Hochmuts, von Neid, Zorn, Trägheit, Geiz, Völlerei oder Impulsen zur Ausschweifung. Genau das aber macht die Beschäftigung mit den Sieben Todsünden zur Herausforderung. So wie alles Ambivalente stets mit besonderen Spannungen verbunden ist.

***