Essay 16
Nachwort
Das Bild existiert nicht mehr, jedenfalls nicht physisch. Nur noch im Kopf. Eine kleine schwarzweiße Fotografie mit weißem Rand im Format sechs mal sechs. Kontaktabzug vom Negativ. Sie zeigt die englische Königin Elisabeth II. bei einem Besuch in Berlin, im offenen Wagen, zusammen mit Prinz Philip sowie Ludwig Erhardt und Willy Brandt. Es ist der Mai des Jahres 1965. Im gleichen Monat war ich elf geworden und hatte eine Agfa Isoly geschenkt bekommen, mit der die Faszination für das Fotografieren ihren Anfang nahm. Sicher kein Zufall. Die Erinnerung ist davon geprägt, dass mein Vater eigentlich immer fotografierte. Kleine, mit Zackenrand versehene Bilder aus den Fünfzigern zeugten ebenso davon wie Dias aus den Sechzigern. Dazu Fotoalben mit eingeklebten Bildern sämtlicher Reisen, Feiern und Ausflüge. Das Anschauen wurde zum Bestandteil der familiären Selbstvergewisserung, ob als Dia-Abend mit Häppchen und Salzstangen oder beim gemächlichen Durchblättern der Alben auf dem Sofa. Die Bilder zeigten, wer wir waren. Genau genommen, sie zeichneten ein Bild davon, wie mein Vater sich selbst und die Familie sehen wollte. Ich habe die Agfa wohl auch geschenkt bekommen, um dieses Ritual am Leben zu erhalten.
Die Isoly war eine einfache Rollfilmkamera mit Kunststoffgehäuse. Einzustellen gab es nicht viel. Mit einem kleinen Hebel am eingebauten Objektiv konnte anhand der Symbole für Sonne, Wolken und Nahaufnahmen lediglich die Blende gewählt werden. Ein Bildzählwerk war nicht vorhanden. Dafür wurde in einem Durchsichtfenster angezeigt, ob der Film korrekt weitergedreht wurde. Als Schutz diente eine braune, schon damals billig erscheinende Plastiktasche. Egal, die Agfa war meine Kamera. Ich war der Fotograf, der ein Bild der Königin aufnehmen wollte.
Der royale Besuch hatte eine Vorgeschichte. Die hieß Kennedy. Bei dessen Aufenthalt zwei Jahre zuvor waren die Straßen von Menschenmassen gesäumt, begierig nach Zuversicht. Nach dem Bau der Mauer im Jahr 1961 und der Trennung Berlins in Ost und West war der eingeschlossene Teil hochnervös. Würde die Bundesrepublik die Westhälfte dauerhaft unterstützen? Die Anspannung war auch für uns Kinder spürbar. Warum fuhren die Menschen nicht mehr mit der vom Osten betriebenen S-Bahn? Warum waren die Erwachsenen so aufgeregt, wenn es mit dem Zug oder mit dem Auto durch die Zone nach Westdeutschland ging? Die Ängstlichkeit war greifbar. Stets lagen Spannungen in der Luft. Als nun der strahlende Amerikaner von der Empore des Rathauses Schöneberg erklärte, auch er sei ein Berliner, traf dies auf eine verunsicherte Mentalität. Der neunjährige Junge, der mit seinem Vater in der Menschenmenge stand, spürte das intuitiv.
Mit der Ermordung Kennedys im November des gleichen Jahres folgte der Schock. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich die Bedeutung der Bilder seines Besuches verstehen. Immer wieder blätterten wir die eilig gedruckten Broschüren und Bildbände durch und hielten inne. Ja, dort hatten auch wir gestanden! Wir lebten den Tag noch einmal nach, der alles so strahlend erscheinen ließ. Und dann der Kontrast nach den Schüssen in Dallas. Nun studierten wir die Aufnahmen von Lee Harvey Oswald und des Barbesitzers Jack Ruby, wie dieser auf den mutmaßlichen Mörder Kennedys schoss. Es war ein Jahr voller geheimnisvoller Bilder. Was ging da vor in der Welt? Ließ es sich herausfinden, wenn man die Aufnahmen nur lange genug betrachtete? Sollte man vielleicht selbst festhalten, was geschah, um es wirken zu lassen, bis es einen Sinn ergab? Natürlich war das ein unreflektiertes Bewusstsein, aber Kinder haben oftmals ein intuitives Gespür für das Richtige und das Falsche. Gibt es eine Ordnung der Dinge? Die Vorstellung einer Antwort war nicht frei von Magie. Die Agfa Isoly wurde zum schamanischen Werkzeug.
Dann kam die Königin. Zwar ahnte ich, dass ein Kennedy-Effekt in neuer Form nicht zu erwarten war, aber es würden erneut viele Menschen an den Straßen stehen, um sich wie bei einem autosuggestiven Stammestanz Kraft zu verleihen. Für mich hieß das: Ich musste die Königin fotografieren. Kennedy war tot. Von seinem Besuch gab es nur Erinnerungen und fremde Bilder. Aber keine eigenen. Das sollte diesmal anders werden. Nach dem Eintrag in das Goldene Buch im Rathaus Schöneberg setzte sich die Wagenkolonne über die Martin-Luther-Straße in Bewegung. Hier wartete ich mit meinem Vater auf den entscheidenden Augenblick. Es dauerte eine Ewigkeit, aber dann kam der Moment. Meine ganze Welt befand sich nun im Sucher und im richtig erscheinenden Augenblick drückte ich auf den Auslöser. Erst dann erfolgte der direkte Blick, ohne Kamera, auf die Wagenkolonne, aber die Königin war schon kaum noch zu sehen.
Ich weiß nicht mehr, wie lange es dauerte, bis der Film in die Drogerie gebracht war und die Bilder abgeholt werden konnten. Aber dann waren sie da. Und eines von ihnen zeigte die Königin. Etwas unscharf, so wie ein Gemälde von Gerhard Richter, aber deutlich erkennbar. Ein Teil der Queen befand sich nun in meinem Besitz. Viel bedeutsamer als alle Pressebilder. Es war mein Bild und bezeugte, dass ich dabei gewesen war und die Königin mit eigenen Augen gesehen hatte. Genau genommen, mit dem Auge der Kamera.
Das Fotografieren hat mich, mit einigen Unterbrechungen, nicht mehr losgelassen. Analog, digital, Dunkelkammer, Bildbearbeitung am Bildschirm – ein facettenreicher Weg, stets ohne Dogma. Erlaubt war fast alles. Ob es gefiel, ist eine andere Sache. Neben dem praktischen Fotografieren stellte sich die Frage, was da eigentlich geschieht, wenn wir mit der Kamera die Welt sehen, oder besser: interpretieren. Im Laufe der Jahre kamen Notizen zusammen, die auf ganz unterschiedliche Weise eine Annäherung versuchen. Die hier versammelten Gedanken zum Charakter des Kamerabildes legen davon Zeugnis ab.
Berlin, im Februar 2022