Essay 07

Fotografie als Skulptur

Die klassische Skulptur stellt ein Sinnbild für Ewigkeit dar. Eine aus dem Marmor geschlagene Statue beansprucht zeitlose Gültigkeit. So wie der Stein das Ergebnis einer Jahrmillionen dauernden Sedimentverdichtung ist, verspricht auch die Skulptur eine nahezu unendliche Lebensdauer. Starr auf dem Sockel, strahlt sie eine universelle und zeitlose Ästhetik aus, frei von kurzfristigen Modeerscheinungen. Das ganze Gegenstück zur Wandelbarkeit. Anders die Fotografie, die ihrem Wesen nach auf die Fixierung des schnellen Augenblicks gerichtet ist. Das Momentane, Flüchtige impliziert dabei jedoch schon immer den folgenden, nächsten Moment und damit Veränderung, Bewegung. Diese kann mit fotografischen Mitteln explizit gemacht werden, etwa als Langzeitbelichtung. Damit verfügt die Fotografie über zwei bemerkenswerte Eigenschaften. Einmal reduziert sie den Raum auf eine zweidimensionale Fläche. Darüber hinaus bietet sie die Möglichkeit, Veränderung und Zeit auszudrücken. Sie verweist trotz ihres auf den ersten Blick statischen Charakters auf Bewegung. Die klassische Skulptur hingegen steht für Kontinuität.

Nimmt man Skulptur als Oberbegriff und bezieht die Plastik mit ein, die nicht aus einem Werkstück herausgearbeitet, sondern nach und nach modelliert und aufgebaut wird, erweitert man darüber hinaus den Skulpturbegriff in einer Weise, wie es im Kunstdiskurs der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts üblich wurde, zeigt sich ein neues Verhältnis zwischen den vermeintlich dichotomen Erscheinungen. Kontinuität und Bewegung verlieren ihre starren Zuordnungen. Bei der Erweiterten Skulptur ist alles möglich. Sämtliche Materialien, Objekte, auch Performances werden in das Werk einbezogen. Die Fotografie ist häufig beteiligt, teils zur Dokumentation von skulpturalen Ereignissen, teils als deren direkter Bestandteil.

Das Verhältnis zwischen Skulptur und Fotografie bildet eine Beziehung auf Augenhöhe und ein System wechselseitiger Befruchtungen. 

Die Fotografie hatte in ihren Anfangsjahren etwas Statisches an sich. Portraits mussten mit langen Belichtungszeiten aufgenommen werden, so dass sich durch die starre Haltung der Abgebildeten eine Bildwirkung ergab, die ihre Verwandtschaft zur Statue nicht leugnen konnte. Die Menschen wirkten nicht lebendig, sondern wie Rollenträger, die sich gemäß der herrschenden Konvention präsentierten. Insbesondere familiäre Gruppenbilder folgten bis zum Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts in erster Linie Erwartungen hinsichtlich der Geschlechts- und Generationsrollen. Nicht viel anders war das in der Antike bei der klassischen Statue. Ihre Funktion bestand darin, einen Idealkörper mit wohl definierten Proportionen zu repräsentieren. Die Figur wurde nicht als Verdoppelung eines Realitätsvorbildes geschaffen, sondern als Symbol für eine Idee. Die Portraitfotografie im 19. Jahrhundert war da kaum anders. Um die individuelle Persönlichkeit ging es meist nicht, dafür um den Nachweis bürgerlichen Erfolgs. Wie auch Skulpturen verwiesen sie auf Ideale und erhielten so ihren Sinn.

Das Bild eines Apfels repräsentiert sowohl den konkreten Apfel, der fotografiert wurde oder dem Maler als Vorbild diente, und darüber hinaus die universelle Idee eines Apfels. Das Bild erklärt sich nicht vollständig aus sich selbst heraus. Wer noch nie einen Apfel gesehen hat, kann auch mit seinem Abbild nicht viel anfangen. Wahrscheinlich wird das dargestellte Objekt in die Kategorie Obst eingeordnet, aber wirklich verstehen kann man das Bild erst bei vorangegangenen eigenen Erfahrungen mit einem realen Apfel. Auch der Sinn einer Skulptur wird in erster Linie durch solche Erfahrungen, hier ist es der soziale Kontext, geprägt. Dieses Verständnis der Subjekt-Objekt-Beziehung hat in der Moderne Eingang in das allgemeine Kunstverständnis gefunden. Umberto Eco hob hervor, dass ein Kunstwerk lediglich ein Angebot ist, das interpretiert werden will. Der Künstler selbst kann den Vorgang beeinflussen, aber nicht hundertprozentig steuern. Beim Bild des Apfels mögen Künstlerintention und Betrachterblick noch eine hohe Sinnübereinstimmung aufweisen. Bei komplexen oder abstrakten Werken ist dies weniger oder gar nicht der Fall.

In ihren Anfangsjahren erschien die Fotografie nicht als eine ernst zu nehmende Konkurrenzveranstaltung zur Malerei. Es gab kaum Befürchtungen, das neue mechanische Verfahren könne die Rolle des Künstlers infrage stellen.

Wie häufig in der Geschichte technischer Innovationen wurden die Potentiale zunächst nicht in ihrer ganzen Reichweite erkannt. Zu sehr schienen die qualitativen Begrenzungen der Fotografie ein Garant zu sein, dass zumindest die klassische Hochkunst keinen Wettbewerber zu fürchten brauchte. Aber ganz sicher war man sich bald doch nicht mehr, und mancher Kunstschaffende ahnte, dass eines Tages zumindest das Gebrauchsbild statt mit Pinsel und Leinwand mit Hilfe von Kamera und Platte entstehen würde. In der Bildhauerei ging man unverkrampfter mit dem neuen Medium um. Die immanente Differenz der dreidimensional angelegten Raumkunst zu den Künsten der Fläche trug dazu bei, dass Konkurrenzphantasien gar nicht erst aufkamen. Man agierte auf unterschiedlichen Spielflächen und zeigte sich gegenüber der fotografischen Technik unbefangen. So befasste sich der eine oder andere Bildhauer schon frühzeitig mit der Frage, wo die Stärken der technischen Abbildung lagen und welchen Nutzen die Arbeit an der Skulptur daraus ziehen konnte.

Der fototechnische Fortschritt brachte in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zwei diametral entgegengesetzte, jedoch gleichermaßen bedeutsame Potentiale hervor. Die Langzeitbelichtung stellte sich nicht mehr als eine apparatbedingte Notwendigkeit dar und erwies sich als geeignet zur Darstellung von Bewegung. Dynamische Objekte hinterließen Spuren, die neue Einsichten in die Phänomene von Raum und Zeit ermöglichten. Auf der anderen Seite hatte die Technik der Kurzzeitbelichtung erhebliche Fortschritte gemacht, so dass die Abbildung schnellster Bewegungsabläufe realisiert werden konnte. Dem eher trägen Auges überlegen, ergaben sich für die Wissenschaft und die Kunst Erkenntnisgewinne, die über traditionelle Sehgewohnheiten hinausführten.

Die Fotografie wird zum Analyseinstrument.

Bildende Künstler und Bildhauer waren aufmerksam geworden, als Eadweard Muybridge in den 1870er Jahren die einzelnen Phasen der Bewegungsabläufe von Menschen und Tieren präzise darstellte. Orientierte man sich am Ideal einer naturalistischen Wiedergabe, konnte eine fotografische Vorlage bei der Schaffung von Kunstwerken offenbar hilfreiche Dienste leisten. Das überzeugte nicht jeden. Auguste Rodin lehnte es ab, Skulpturen nach dem Vorbild von Fotografien zu modellieren. Da sich die Bewegung einer Skulptur ausschließlich im Blick des Betrachters ergebe, so Rodin, könne der Künstler von der detailgenauen Vorlage abstrahieren. Es sei für die Wahrnehmung unerheblich, ob der dargestellte Bewegungsablauf der Realität entspreche oder nicht. Entscheidend sei, dass die Figur so wahrgenommen werde, wie es dem Künstler als Idee von Bewegung vorschwebt. Andere hingegen nahmen die analytischen Fotografien als Vorbild für Werke mit direktem Realitätsanspruch.

Die Technik der Sequenzfotografie wurde durch die Chronofotografien des Mediziners und Physiologen Étienne-Jules Marey weiterentwickelt. Waren die Bewegungsserien von Muybridge noch mit Hilfe mehrerer, nacheinander ausgelöster Kameras entstanden, fasste Marey die Phasen in Form einer Mehrfachbelichtung zusammen. Dadurch ergaben sich ungewohnte Effekte, ähnlich einer Aufnahme mit Stroboskopblitz. Als Forscher besaß Marey zunächst keine künstlerischen Ambitionen. Gleichwohl wurde er zum Bildhauer. Auf Basis der Phasen des Flügelschlags eines Vogels, die in einer einzigen Fotografie zusammengefasst waren, nahm er die Übertragung aus der Fläche in die dritte Dimension vor. Auf diese Weise entstanden Skulpturen, die aus mehreren angedeuteten Sequenzelementen bestanden und Bewegung suggerierten.

Das Verhältnis von Fotografie und Skulptur lässt sich bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert überwiegend als ein funktionales beschreiben. Die fotografische Detailanalyse unterstützte den Künstler, dessen Werke stilistisch in der Welt des Realismus entstand. Rodin war eine frühe Ausnahme. Die nachfolgende Generation ging einen Schritt weiter. Der Begriff der Bewegung wurde nun noch radikaler gefasst und es kam zur Ablösung vom konventionellen Realismusverständnis. Die erhabene Idealstatue mit ihrer machtvollen Gewichtigkeit war passé. Bewegung, Multiperspektivität und das Aushalten von Gegensätzen wurden zu zentralen Begriffen der Zeit und ihrer Kunst. Zu den treibenden Kräften der künstlerischen Avantgarde zählten im zweiten Jahrzehnt des Zwanzigsten Jahrhunderts die Protagonisten des Italienischen Futurismus. Inspiriert waren sie von Henri Bergson, der 1911 in Bologna dem Zeitgeist mit einem paradigmatischen Vortrag zur Lebensphilosophie Ausdruck gegeben hatte. Bergsons verband diese mit dem Antistatischen der Moderne. Der Prozess des Werdens erschien wichtiger als die Einrichtung im Bestehenden.

Umberto Boccioni fasste 1914 die Programmatik des Futurismus in der Leitfrage zusammen, wie sich die Bildhauerkunst in Bewegung versetzen ließe. Anregungen fand er in den chronofotografischen Arbeiten des 19. Jahrhunderts. Boccioni waren sowohl die Bewegungsfotografien von Muybridge wie auch die dreidimensionalen Weiterentwicklungen Mareys vertraut, aber beide, die Technik der fotografischen Sequenzaufnahme und auch die Vogelflugskulpturen, erschienen ihm noch immer zu realistisch. Die Fotografien Anton Giulio Bragaglias erwiesen sich hingegen als besser geeignet. Durch Langzeitbelichtungen bewegter Personen hatte dieser eine Serie dynamischer Bilder geschaffen, bei denen es weniger um den Menschen vor der Kamera an sich ging, sondern um das Prozesshafte. Anders als bei der Sequenz- und Chronofotografie mit ihrer Abgrenzung der Phasen ergab sich eine konsequente Öffnung zur Bewegung. Der fließende Effekt war wichtiger als die Addition statischer Einzelmomente. Diesen Gedanken übertrug Boccioni in die dritte Dimension. Die so entstandenen Skulpturen lassen sich mit Gemälden Pablo Picassos oder, deutlicher noch, Francis Bacons vergleichen, der in den 1960er Jahren eine Serie mit impulsiven Körperdrehungen und suggestiven Bewegungswirkungen schuf. Boccioni hatte manches von dem vorweggenommen, indem er die Synchrondarstellung mehrerer Perspektiven um den Prozess des Perspektivwechsels selbst erweiterte, also die Bewegung, die sich während der Veränderung des Blickwinkels ergibt.

Für die futuristische Formensprache war der an den Akademien gelehrte klassische Schönheitsbegriff überholt. Bestenfalls erschien er als Ausdruck eines humanistischen Bildungsideals.

Über Italien hinaus entwickelte sich vor diesem Hintergrund eine alternative Kunstszene. Marcel Duchamps Fahrradfelge auf dem Küchenschemel stellte 1913 nicht nur ein dadaistisches Ready-made dar. Sie war eine der ersten Plastiken mit beweglichen Elementen. Das durch das Rad verkörperte Rotationsprinzip löst beim Betrachter kinetische Gedankenassoziationen aus. Schon Marey hatte die dritte Dimension kenntlich gemacht und deren skulpturale Eroberung vorbereitet, indem er wirbelnde Fäden fotografierte. Duchamp genügte bereits das Potential der Felgenrotation, um einen vergleichbaren, nun jedoch abstrakten Effekt zu erzielen. Das Rad auf dem Schemel verwies auf die Möglichkeit einer Drehung und damit implizit den Raum und die Zeit. Duchamp hielt im Übrigen seine Experimente regelmäßig fotografisch fest.

Im Zeitrafferblick wird die ganze Tragweite der Entwicklung deutlich. Im ersten Schritt war die klassische Statue bewegungsrealer geworden, da mit Hilfe der Fotografie dynamische Vorgänge analysiert werden konnten und sich die Erkenntnisse auf die Skulptur übertragen ließen. Im zweiten Schritt forcierte Boccioni das neue Wissen und schuf eine fließende Form, die noch eindringlicher Bewegung und Multiperspektivität suggerierte. Den dritten Schritt vollzog Duchamp, der das Werk in eine gedachte Bewegung versetzte. Die kinetischen Experimente des Bauhauses sollten diesen immateriellen Ansatz fortführen und mit der Eroberung des Raumes durch reines Licht spielen.

Die skulpturale Kunst war beweglich geworden, sie nutzte nun alle zur Verfügung stehenden Materialien, sie bezog das Flüchtige in die Konzeption ein, sie spielte durch Lichteffekte mit der Phantasie der Raumnutzung und sie forderte alle Sinne des Betrachters.

Die figurale Starrheit und Abgeschlossenheit der klassischen Skulptur verkehrte sich in das Gegenteil, die Grenzen des Skulpturverständnisses wurden mehr und mehr erweitert. Schließlich entstanden nicht nur komplexe Installationen mit allerlei Überraschungseffekten. Ab der Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts tauchte der Künstler selbst aus der Kulisse auf und nahm eine aktive Rolle im Kunstwerk ein. Bezog sich sein Auftritt anfangs noch auf die Interaktion mit der Installation, so bekam das Agieren zunehmend einen eigenständigen Charakter. Die Performance war geboren, und es setzte sich durch, diese in den erweiterten Skulpturbegriff einzubeziehen. Sämtliche Elemente des Wirklichen und auch des Phantastischen dienten von nun an als plastisches Material und konnten für die skulpturale Konstruktion genutzt werden. Das Konzept der Sozialen Plastik von Beuys erweiterte diesen Gedanken bis in den Raum gesellschaftlicher und politischer Veränderungen.

Damit bekam die Frage nach der Beständigkeit der Skulptur bzw. Plastik eine Bedeutung, die sie bei herkömmlichen Kunstwerken bestenfalls unter konservatorischen Gesichtspunkten hatte. Die flüchtige, sich verändernde oder imaginierte Skulptur existiert, strenggenommen, nur im Augenblick ihrer Hervorbringung. Die Vergänglichkeit kann zum beabsichtigten Konzept des Werkes gehören. Nach Ende der Performance zeugen lediglich mündliche Berichte vom Geschehen. Wird eine dauerhafte Erinnerung angestrebt, bieten sich für die Dokumentation der Film, die Videoaufzeichnung oder die Fotografie an. Das so Gespeicherte zeugt vom Geschehen und bildet fortan das konservierte Werk. Ob es sich um Body-Art-Projekte handelt, Land-Art-Skulpturen oder Performances im Großstadtrevier, meist handelt es sich um integrative Konzepte, die sowohl die Aktion selbst wie auch ihre bildtechnische Aufbewahrung beinhalten. Die Projekte Christos etwa entfalten ihre dauerhafte Wirkung nicht zuletzt aufgrund der, im Übrigen auf diese Weise vermarktungsfähig gewordenen, Dokumentation des Gesamtprozesses. Ähnliches gilt für die Werke Bruce Naumans. Skulptur und Bildaufzeichnung begegnen sich im medienübergreifenden Gesamtkunstwerk aus Fotografien, Videos und Hologrammen. Auch in der traditionellen Fotografie erweiterte sich das Verständnis. Die Verleihung des Goldenen Löwen für Skulptur im Jahr 1990 an das Fotografenpaar Hilla und Bernd Becher zeugt davon. Die akribische Sammlung fotografierter Industriebauwerke stellt die Umsetzung einer Konzeptidee dar und bildet, bedingt durch die serielle Präsentation, eine gedanklich konstruierte und dann sichtbar gewordene Skulptur.

Unabhängig von den Dimensionen Fläche und Raum wird deutlich, dass Kunst eine Angelegenheit ist, die ideell entsteht, zunächst im Kopf des Künstlers oder der Künstlerin, später in dem des entschlüsselnden Betrachters.

Letztlich impliziert dies bei radikaler Betrachtung eine Verwischung der Begriffe Fotografie und Skulptur. Übrig bleibt der übergreifende Begriff des künstlerischen Konzeptes. Selbst wenn damit nicht alle Aspekte der Erscheinungsformen von Skulpturen und Fotografien berücksichtigt werden, lässt sich der Vorgang als Distanzreduzierung zwischen beiden Gattungen verstehen. Die Digitalisierungswelle der vergangenen Jahrzehnte hat diesen Prozess weiter gefördert. Die Öffnung des Skulpturbegriffs geht einher mit einem Selbstverständnis der Fotografie, die sich als Bestandteil einer künstlichen Medienwelt ohne Gattungsgrenzen versteht. Während die analoge Fotografie anfangs noch mit einem naturalistischen Abbildungsparadigma verbunden war, hat sich die digitale Aufnahme von der Realitätsbindung gelöst.

Das International Center of Photography in New York unternahm im Jahr 2014 den Versuch einer Annäherung an das Wesen der zeitgenössischen Fotokunst. Der Titel der Ausstellung What Is a Photograph? war, wie die Kuratorin Carol Squiers betonte, eine Frage mit mehreren Antwortmöglichkeiten. Schon in den 1960er Jahren gab es parallel zum traditionellen Verständnis der Fotografie das Bestreben, diese im Rahmen der Konzeptkunst in die Contemporary Art einzuführen, damals noch auf Basis analoger Techniken. Aus dem zeitlichen Abstand werden verschiedene Entwicklungslinien sichtbar. Einmal wurde die Kamera im Rahmen von Performances entweder selbst zum Bestandteil der Aktion oder zum dokumentierenden Hilfsmittel. Gänzlich andere Aspekte zeigten sich bei den Experimenten mit der Polaroidtechnik, deren Material eine mechanische oder chemische Manipulation unmittelbar nach der Belichtung ermöglichte, noch bevor die Entwicklung ihren Abschluss fand. Arbeiten von Lucas Samaras zeigen solche Experimente. Ebenfalls mit klassischem Filmmaterial und analoger Kameratechnik experimentierte der von der Malerei kommende Sigmar Polke. Kamerabewegungen während der Aufnahme, Doppelbelichtungen, Manipulationen durch prozessuntypische Chemikalien, mechanische Beschädigungen des Negativs, Hitzeeinwirkungen und grundsätzlich alles, was auf anarchische Weise absichtsvolle Fehler und gewollte Zufälle hervorbrachte, führten zu Ergebnissen jenseits des traditionellen Bildverständnisses. Darüber hinaus experimentierten Polke wie auch Gerhard Richter mit der Übermalung von Fotografien und testeten so die Spannung zwischen den Realitäten des mechanisch erzeugten und des gemalten Bildes. Andere wiederum verzichteten gänzlich auf die Kamera und gingen, wie Jahrzehnte zuvor schon Moholy-Nagy, den Weg der direkten Belichtung des Fotopapiers.

Auch nach Verdrängung der analogen Fotografie durch die Digitalisierung und dem damit einhergehenden Bedeutungsverlust der klassischen Fotomaterialien wurden weiter alte Techniken angewandt. Florian Neusüss arbeitete kameralos, indem er Fotopapier mit der lichtempfindlichen Seite nach unten auf den nächtlichen Rasen legte und es von verschiedenen Seiten schräg mit dem Blitz belichtete. Es entstanden grafisch anmutende, abstrakte Werke, die dem Betrachter aber auch eine Idee von Grashalmen ermöglichen. Einen Schritt weiter ging Mariah Robertson, ursprünglich Bildhauerin. Sie bearbeitete Fotopapier von der Rolle mit verschiedenen Techniken und formte das bis zu dreißig Meter lange Papier dreidimensional in den skulpturalen Raum. Marlo Pascual betrat ebenfalls die dritte Dimension, indem er Fotografien mit anderen Objekten kombinierte und dem Betrachter die Konstruktion eines medienübergreifenden Sinnzusammenhanges abverlangte. Alison Rossiter setzte altes, vor vielen Jahren abgelaufenes Fotopapier ein und erzielte vermeintlich fehlerhafte Farbwirkungen. Aber was wären denn die richtigen Farben gewesen, drängt sich da als Frage auf. Letha Wilson schließlich nahm klassische Landschaftsaufnahmen und bearbeitete sie bis hin zur Formung als Skulptur, um das Klischeehafte eingeübter Sehgewohnheiten offenkundig zu machen und neue Perspektiven zu eröffnen.

Obwohl die analogen Materialien weiterhin auf dem Markt angeboten werden, sind in den letzten Jahrzehnten die optischen, chemischen und physikalischen Manipulationen der Filmemulsion sowie die Verwendung des klassischen Fotopapiers ganz überwiegend durch digitale Einsen und Nullen, den Scan, die Speicherkarte und den Drucker abgelöst worden. Die New Yorker Ausstellung hat gleichwohl gezeigt, wie sich das analoge Spiel mit Materialität und Immaterialität in der digitalen Welt auf neue Weise fortsetzt. Travess Smalley gestaltet Fotocollagen medienübergreifend mit Hilfe des Scanners, farbigem Papier und Schere, Seiten aus Printmagazinen und der Bearbeitungspalette von Photoshop. Den Schlusspunkt bildet als Original eine Datei, von der als Unikat häufig nur ein einziger Ausdruck angefertigt wird. Auch Jon Rafman arbeitet mit allen zur Verfügung stehenden digitalen Techniken, virtuellen Realitäten aus Computerspielen, Anregungen aus den Subkulturen des Internets sowie Bildmaterial von Google Street View. Dessen weltumspannende Bildersammlung erinnert Rafman aufgrund der polyperspektivischen Zusammenfassung vieler Sichtweisen an einen Gott, der die Welt beobachtet.

Heute befinden wir uns in einer Periode, in der sich die Fotografie mühelos zwischen den Medien und Möglichkeiten bewegt.

Gleichzeitig wird deutlich, dass die Verbreitung der neuen Technologien eine bewusste Abwendung vom Digitalen nicht ausschließt. Es lässt sich aber nicht vorhersehen, welche Formen der Fotografie künftig entstehen werden. Und dennoch, mitunter wird das Bemühen deutlich, die Geschichte des Mediums gedanklich beiseite zu legen und sozusagen noch einmal neu zu beginnen. Die damit verknüpften Reflexionen führen nicht selten zur Frage nach dem ontologischen Wesen der Fotografie. Während das klassische analoge Negativ noch darauf verwiesen hatte, dass im Augenblick der Aufnahme etwas vor der Kamera gewesen sein musste, ist dies bei der digitalen Datei nicht der Fall. Die Fotografie ist grundsätzlich zweifelhaft geworden.

Das entscheidende Kriterium für die Definition von Fotografie bildet die Speicherung optischer Signale auf einem Medium, egal ob analog oder digital, nicht jedoch die Verwendung von Kamera und Objektiv. Fotogramme und Ähnliches gehören deshalb dazu, ebenso der Schritt der Fotografie aus der Fläche in den dreidimensionalen Raum, ob durch Manipulation der, wenn auch dünnen, Filmschicht, durch Präsenz im Rahmen von Objektkunst oder als räumlich frei geformtes Werk. So neu war das allerdings 2014 nicht, denn bereits 1970 hatte das Museum of Modern Art mit der Ausstellung Photography into Sculpture dem Publikum gezeigt, wie sich mit Hilfe der Fotografie der Raum erobern lässt. Dazu trugen auch die Parallelen beider Gattungen bei.

Wird dem analogen Bild ein Beweischarakter zugeschrieben, weil sich infolge der Lichtabstrahlung die vor der Kamera befindlichen Dinge im Negativ einprägen, so ist dies nicht weit entfernt vom Prinzip der Gusstechnik in der Bildhauerei.

Zunächst wird ein Objekt als Tonform modelliert. Anschließend wird ein Abdruck genommen, der als Gussform dient. Wie beim fotografischen Verfahren wird aus diesem Negativabdruck das Positiv gebildet, etwa als Bronzeguss. Darüber hinaus gibt es weitere Gemeinsamkeiten. Solange das fotografische Negativ und die abgenommene Form des Tonmodells existieren, können von beiden nahezu beliebig viele Positive hergestellt werden. Dieses Potential zur Vervielfältigung löst die Frage nach dem Original aus. Da weder die Fotografie noch die Bronzeplastik ohne Zerstörung des Negativs beziehungsweise des Tonmodells und der Gussform einen singulären Charakter aufweisen, handelt es sich bei ihnen nicht um Originale im strengen Sinn.

Die in Museen verwendete Bezeichnung Abguss-Sammlung ist korrekt und angemessen. Darüber hinaus lädt sie den Besucher zur Reflexion über die Entstehungsbedingungen der Exponate ein. Fotogalerien halten hingegen gerne am Einzigartigkeitsversprechen fest. So wird betont, dass Vintage Prints oder Originalabzüge ihre Besonderheit, nebenbei auch ihren kommerziellen Wert, der persönlichen Herstellung durch den Fotografen beziehungsweise seiner Signierung und Nummerierung verdanken. Eine solche Originalitätszuschreibung ist durchaus berechtigt, da die Arbeit in der Dunkelkammer eine Reihe von Bildbeeinflussungen ermöglicht. Die von Hand hergestellten Abzüge eines Negativs können sich deshalb unterscheiden. Es gibt dann mehrere Bildversionen, wie etwa im Werk von Ansel Adams zu sehen ist. Dennoch, grundsätzlich einzigartig ist ausschließlich das Filmnegativ. In digitalen Zeiten hingegen herrschen andere Bedingungen. Während es im Negativfilm bei Belichtung und Entwicklung zu einer chemischen Reaktion kommt, die weder umkehrbar ist noch nachträglich manipuliert werden kann, ohne Spuren zu hinterlassen, wird bei der digitalen Aufnahme eine nichtmaterielle Fotovoltaikreaktion des Sensors ausgelöst. Diese Information wird auf der Speicherkarte als Datei festgehalten, die ohne Eingriff in die Beschaffenheit des Datenträgers verändert werden kann. Bei der digitalen Fotodatei handelt es sich deshalb nicht um ein Beweismittel für ein Es ist so gewesen wie beim Negativfilm, sondern um eine flüchtige Angelegenheit ohne direkte materielle Manifestation. Die Frage nach dem Original ist komplizierter als noch in analogen Zeiten. Da kein dem Negativ vergleichbares Substrat angefasst werden kann, unterscheidet sich die digitale Fotografie grundlegend von der plastischen Gussform. Das ehemals gemeinsame Paradigma der Negativ-Positiv-Technik von Fotografie und Skulptur ist mit der Digitalisierung Geschichte geworden und hat lediglich bei analogen Verfahren weiterhin Gültigkeit.

Die zeitgenössische Kunst wird oftmals als grenzenlos wahrgenommen. Unterscheidungen zwischen den Disziplinen sind aufgehoben und die Vermischung von Techniken, Materialien und Medien ist an der Tagesordnung.

Der Betrachter ist gefordert, seine Aufmerksamkeit sowohl auf die Analyse statischer Werkelemente wie gleichermaßen flüchtiger oder performativer Anteile zu richten. Sein Blick erst macht das Werk. Aber so ist das nun einmal. Sehen ist ein komplexes Geschehen, bei dem nicht einfach eine externe Realität auf der Netzhaut widergespiegelt und im Gehirn gespeichert wird. Es handelt sich vielmehr um einen aktiven, konstruierenden Prozess. Wir deuten und interpretieren die Lichtreize, die von den Augen wahrgenommen werden, und gleichen sie mit bekannten Schemata ab, um so eine Vorstellung von dem zu gewinnen, was sich da gerade abspielt. Wir machen uns im wahrsten Sinne des Wortes ein Bild, meist durch den Vergleich mit bereits Bekanntem. Und wenn uns dafür noch kein Schema zur Verfügung steht, muss das Wahrgenommene entschlüsselt werden. Manchmal ist das mühsam. Mitunter befinden wir uns dann in der Sphäre der Kunst.

Bei der Interpretation von Skulpturen und Fotografien ergibt sich eine zunächst paradox erscheinende Affinität, die im Räumlichkeitsverständnis begründet ist. Für jede Installation, jede Performance und jede Skulptur bildet der Raum die Existenzvoraussetzung. Ob es die Bewegung des Objektes selbst ist oder dessen Umrundung durch den Betrachter, in allen Fällen bezieht der Prozess der Werkerschließung mehrere Dimensionen in die Interpretation ein. Bei der Fotografie hingegen erfordert gerade das Fehlen der dritten Dimension eine besondere Anstrengung. Jedes Bild kommt aufgrund der Reduktion auf eine zweidimensionale Fläche einer Abstraktion gleich, die rückübersetzt werden will. Die ursprüngliche Räumlichkeit wird rekonstruiert und gedanklich wieder hinzugefügt. Bei Fotografien handelt es sich somit um nichts anderes als virtuelle Plastiken.

Auf den ersten Blick scheint es problematisch, eine dreidimensionale Skulptur und eine zweidimensionale Fotografie trotz evidenter phänomenologischer Unterschiede in ein Verwandtschaftsverhältnis zu setzen. Entscheidend ist jedoch, dass nicht die Materialitäten, sondern die Entschlüsselungsmechanismen und Konstruktionsprozesse des Betrachters den Ausschlag geben. Skulptur ist Raum, Fotografie verweist auf Raum. Ebenso, wie bei Rodins Schreitendem vom Betrachter die Bewegung gedanklich hinzugesehen wird, ist eine Fotografie um die im Print nicht vorhandene dritte Raumdimension und gegebenenfalls ihre dynamischen Elemente, also die vierte, zeitbezogene Dimension zu ergänzen. Dies gilt sowohl für die analoge wie die digitale Fotografie. Die Bezugnahme auf den Raum als Kriterium für die Bestimmung des Verhältnisses von Skulptur und Fotografie ist deshalb wichtiger und entscheidender als der Verweis auf die Negativ-Positiv-Technik, der ausschließlich bei der analogen Fotografie Sinn macht.

Die digitale Fotografie steht dem freien Charakter der Kunst näher als ihre analoge Vorgängerin.

Sie erhebt keinen zwingenden Anspruch auf eine Realitätsabbildung und ist auch nicht an die Wirklichkeit gebunden. Man darf von ihr keine Objektivität erwarten. Es geht auch nicht darum, was sie an sich darstellt. Der Betrachter muss das Bild deuten, ohne sich auf ein Wirklichkeitsvorbild verlassen zu können. Phantastisches spielt potentiell immer mit. Die digitale Fotografie erfüllt damit stärker als ihre analoge Vorgängerin alle Bedingungen, um im Rahmen eines erweiterten Verständnisses als freie Kunst mitspielen zu können.