Essay 14

Philosophisches vom Schatten

Die Frage nach dem Wesen des fotografischen Bildes ist so alt wie die Fotografie selbst. Und die Frage nach dem Verhältnis von Abbild und Wirklichkeit sogar noch wesentlich älter. Sie führt zurück bis zu Platon, dessen Höhlengleichnis gleichermaßen zum Diskurs über grundlegende philosophische Erkenntnisfragen einlädt wie auch zur Begründung einer ersten Bildtheorie. Darüber hinaus geht es um moralische Urteile. Kann das künstlerische Bild einen Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung und sozialen Befriedung leisten? Platon verneinte dies. Nachbildende Kunst und Moral hätten nichts miteinander zu tun. Kunst vermöge lediglich, niedere Instinkte anzusprechen, höhere Reflexionsprozesse würden durch sie nicht befördert. Aber schon sein Schüler Aristoteles sah dies entschieden anders, indem er auf ihr kathartische Potential hinwies. Dramatische Bühnenwerke zum Beispiel, so seine Überzeugung, können nicht nur Konflikte darstellen, sondern auch Lösungsansätze offerieren, die das Verhaltensrepertoire des Betrachters im Sinne einer charakterlichen Entwicklung erweitern.

Kann Fotografie wahr sein und zur Schaffung einer besseren Welt beitragen? Oder handelt es sich um ein Schein- und Showgeschäft ohne ethische Relevanz?

Die Geschichte der Fotografie und ihrer Rezeption zeigt, dass die erkenntnistheoretischen und ethischen Fragestellungen der Antike auch unter neuen Bedingungen Bestand haben. So eröffnet Susan Sontag ihren Band Über Fotografie im Jahr 1977 mit Anmerkungen zu Platons Höhlengleichnis und leitet dann über zur Kritik des zeitgenössischen Umgangs mit dem fotografischen Bild. Ähnlich wie auch bei der Interpretation der Schatten an der Höhlenwand verbinde sich, so ihre Grundthese, das Alltagsverständnis von Fotografien allzu häufig mit der Zuschreibung eines unhinterfragten Realitätscharakters. Nicht die Begegnung mit der Welt draußen vor der Höhle, vor der Kamera, wird gesucht. Als wirklich gilt, was die Schatten, die Fotografien, zeigen. Der durchschnittliche Konsument von Bildern hat sich darin eingerichtet, das Vorgeführte als real zu betrachten. An Verunsicherungen ist er nicht interessiert. Er nimmt die Welt hin, wie es das Kamerabild zeigt. Dieses gilt ihm als Beweis, dass eine Begebenheit so stattgefunden hat, wie es der kurze Augenblick der Aufnahme als Schnitt aus dem stetigen Strom des Geschehens suggeriert. Ob die Fotografie Bestandteil einer manipulativen Strategie sein könnte, wird in der Regel nicht geprüft. Und ob eine Momentaufnahme repräsentativ für die Gesamtszene ist, spielt ebenfalls keine Rolle.

Im Essayband Das Leiden anderer betrachten hat sich Susan Sontag 2003 noch eindringlicher mit der moralischen Kraft der Fotografie befasst. Insbesondere am Beispiel der Kriegsberichterstattung geht sie der Frage nach, ob Bilder nachhaltig aufrütteln können. Handelt es sich um flüchtige Konstrukte, die lediglich einen zweifelhaften Wirklichkeitsbezug aufweisen und oberflächliche Sensationsvoyeurismen befriedigen, oder kann der hervorgerufene Schock beim Betrachter eine nachhaltige, aufklärerische Wirkung entfalten? Sontags Skepsis hinsichtlich der Authentizität und der Wirkung fotografischer Bilder erinnert an Platon. Im Höhlengleichnis, in der Kunsttheorie und im Rahmen einer künftigen Pädagogik hatte dieser in der Politeia ein Gesellschaftmodell entwickelt, das bis in die Neuzeit nachwirkt. Friedrich Nietzsche war diesem gegenüber kritisch und sah in der platonischen Philosophie das Grundübel der Moderne. Alles Irrationale, alles Leidenschaftliche sei von Platon sowohl aus der Philosophie wie auch aus dem Bild einer idealen sozialen Ordnung entfernt worden. Aber gerade dies scheint zum Fortschrittsglauben der industriegesellschaftlichen Neuzeit zu passen.

Vernunft und Instinkt bildeten bei Platon das zentrale Gegensatzpaar. Aufklärung und Romantik oder Wissenschaft und Kunst sind verwandte Antagonismen. Der fototheoretische Diskurs, der das neue Medium seit seiner Erfindung begleitet, weist einige Parallelen hierzu auf. Relativ verbreitet ist bis heute eine Widerspiegelungsvorstellung, die der Fotografie eine nüchtern dokumentierende Rolle mit Objektivitätscharakter zuweist. Dem gegenüber steht ein Verständnis, das sich eher an den Freiheitsgraden der klassischen Künste orientiert. Beide Ansätze beantworten die Frage nach dem Verhältnis von Realität und Abbild auf unterschiedliche Weise. Einen Konsens über das Wesen des fotografischen Bildes gibt es nicht.

Platons Höhlengleichnis wird im siebenten Kapitel der Politeia entwickelt.

Sokrates befindet sich im Gespräch mit seinem Schüler Glaukon. Die Versuchsanordnung ist schnell beschrieben: In einer Höhle lebt eine Gruppe von Menschen, angekettet und ohne die Möglichkeit sich umzuwenden. Vor ihren Augen befindet sich eine Wand, im Rücken der Höhleneingang. Hinter einer halbhohen Mauer gehen vor der Höhle Menschen vorüber, die über ihren Köpfen künstliche Gegenstände, etwa Skulpturen, tragen und sich dabei unterhalten. Von den Dingen werden Schatten an die Wand im Höhleninneren geworfen. Sokrates fragt, ob die Höhlenbewohner unter diesen Umständen überhaupt von einer anderen Wirklichkeit als derjenigen der Schatten wissen können. Glaukon hält dies für völlig unmöglich. Die Schatten sowie die scheinbar von ihnen ausgehenden Stimmen sind im Bewusstsein der Höhlenbewohner die alleinigen Quellen ihrer sinnlichen Erfahrung. Sie bestimmen ihr Weltbild. Sie sind die Welt.

Im weiteren Fortgang des Dialogs wird angenommen, dass sich einer der Höhlenbewohner von den Fesseln befreit und sich umblickt. Sobald er ein wenig an das Licht gewöhnt ist, nimmt er schemenhaft die Gegenstände wahr, von denen er bislang nur Schatten sehen konnte. Dennoch wird er diese zunächst weiterhin für die eigentliche Realität halten, die Gegenstände hingegen für eine bloße Erscheinung. Außerdem wird ihm das helle Licht unangenehm sein, so dass er wieder den angestammten Platz in der Höhle einnehmen möchte. Überwindet er sich dennoch und nähert sich dem Ausgang, erkennt er in der Helligkeit zunächst kaum etwas. Seine Augen sind geblendet. Erst nach einiger Zeit nimmt er die Dinge wahr, zunächst die künstlichen Statuen, schließlich die Menschen und die Natur. Letztlich aber geht es darum, so Platon, dass als Quelle allen Seins die Sonne erkannt wird. Deren Licht formt die Realität und wird zur Ausgangsbasis für das Wissen der ordnenden Vernunft. Gleichzeitig vollzieht Platon den Schritt zur Ethik, indem er das Wahre mit dem Guten gleichsetzt. Dies zu verstehen, bleibe Auserwählten vorbehalten. Für die Mehrheit sei der mutige Aufstieg aus der Höhle keine realistische Option. Platon appelliert deshalb an die Erkennenden, wieder herabzusteigen und, priesterähnlich, die Angeketteten auf die höhere Wahrheit außerhalb der Höhle vorzubereiten.

Bei der Grundkonstellation des Höhlengleichnisses fällt das mehrschichtige System von Wirklichkeitsebenen auf. Bleibt die reflexive Sicht der Höhlenbewohner, also ihre Eigenbetrachtung, unberücksichtigt, so verweist Platon auf drei unterschiedliche Realitäten. Zunächst gibt es als Alltagsrealität der Gefangenen die Schatten an der Wand. Nach der Entfesselung und auf dem Weg nach oben werden als zweite Realität die künstlichen Gegenstände erblickt, die über die Mauer ragen. Erst im dritten Schritt werden die Träger und Urheber dieser Gegenstände sowie die vollständige Weltwirklichkeit wahrgenommen. Gekrönt wird der Aufstiegsprozess durch das Wissen um die Bedeutung der Sonne, die alles erst zur sichtbaren Realität macht.

Vergleichbar mit den Bildern in der Höhle handelt es sich auch bei einer Fotografie um ein durch Licht hervorgerufenes Abbild.

Das klingt zunächst selbstverständlich. Weniger banal ist die Frage, von was die fotografische Aufnahme ein Abbild darstellt. Bei genauerer Betrachtung wird nämlich deutlich, dass grundsätzlich niemals ein Ding an sich fotografiert wird, sondern jedes Bild eine vom Fotografierenden geschaffene Wirklichkeitssicht wiedergibt. Das Alltagsbewusstsein begnügt sich jedoch mit einer einfachen Widerspiegelungstheorie: Dort befindet sich die Wirklichkeit, hier ist ihr fotografisches Abbild. Die unterstellte Objektivität bewirkt, dass einer Fotografie eher Glauben geschenkt wird als der mündlichen Erzählung oder dem Gemälde. Bei jenen vermutet man stets eine Tendenz zur Subjektivität, während der technische Vorgang des Fotografierens Garant eines neutralen Bildes zu sein scheint. Bei näherer Betrachtung gestalten sich die Dinge jedoch komplexer. Ein Betrachter nimmt die Dinge nicht nur passiv wahr, sondern muss eine Fotografie decodieren und ihr einen Sinn geben. Weiterhin lässt sich ihre Funktion im Medienkontext entschlüsseln. Schon Susan Sontag hatte festgehalten, dass dies im Zeitalter des massenhaften Bildergebrauchs nur selten geschieht. Die fotografische Fixierung von Ereignissen soll schließlich eine stabile Realität suggerieren. Von Verunsicherungen will man nichts wissen. Ob es sich um Familienfotos handelt oder um Aufnahmen politischer Ereignisse, sie bestimmen die Vorstellung von dem, was stattgefunden hat.

Der moderne Mediennutzer ist, so scheint es, wie sein angeketteter Vorgänger in der Höhle mit dem zufrieden, was ihm bildlich serviert wird. Er lebt in einer Welt von Bildern. Erst wird die Vorstellung von der Welt durch Fotografien strukturiert. Im zweiten Schritt findet eine Inventarisierung der Bilder selbst statt. Sie zeigen, wie es gewesen sein soll, und haben die Komplexität des Geschehens auf eine übersichtliche Menge an Informationen reduziert. Darüber hinaus verselbständigen sich einige von ihnen und werden zur Kunst. Man muss Bilder nur entsprechend darbieten oder in einen musealen Kontext einbetten. Dann werden sie ikonisiert und erhalten einen Wert an sich.

Schafft der Künstler das Abbild eines Gegenstandes, verlässt er nicht die Sphäre des Materiellen und bleibt von der darüber liegenden Ideenwelt getrennt. Sein Werk ist deshalb, so Platon, lediglich Nachahmung, Mimesis. Die Dinge werden gewissermaßen verdoppelt, wenn auch in vereinfachter Gestalt. Gute Kunst kommt dem Schönen zwar näher als eine schlechte Nachahmung, aber nur naive Gemüter, die keine Vorstellung der Ideenwelt besitzen, halten die sichtbare Realität und die aus ihr abgeleitete Kunst bereits für die Wahrheit. Die Wertigkeiten sind in Platons Metaphysik klar geregelt: Ganz oben befindet sich die Ideenwelt, darunter folgen die sinnlich erfahrbare Wirklichkeit und erst nachrangig das nachahmende Kunstwerk.

Die Kunsttheorie wird im zehnten Kapitel der Politeia anhand der Unterscheidung von Begriff, Gegenstand und Abbild entwickelt.

Dinge wie Tische, von Platon hier exemplarisch genannt, gebe es viele, jedoch nur einen Begriff des Tisches. Dieser existiert bereits abstrakt, bevor der Handwerker einen konkreten Tisch anzufertigen beginnt. Planung und Herstellung orientierten sich an einem Gedanken. Allgemein ausgedrückt, die Welt beginnt mit einer Idee. Nach diesem Hinweis auf den nichtmateriellen Ursprung der Dinge befasst sich Platon mit der Tätigkeit des Malers, der das Abbild eines Tisches schafft, und vergleicht dessen Nachahmung mit der Funktionsweise eines Spiegels. Während der Tischler etwas Neues erzeuge, sei der Maler lediglich Nachbildner von etwas bereits Existierendem. Damit sind die essentiellen Unterschiede der drei Kategorien beschrieben, des gemalten Tisches, des vom Tischler angefertigten und des begrifflichen. Die jeweiligen Urheber bezeichnet Platon als Nachbildner, Werkbildner und Wesensbildner. Natürlich kann ein Maler auch auf Basis freier Phantasien ein Bild erschaffen. Aber darum geht es hier nicht.

Inwieweit entspricht das vom Maler Nachgebildete dem Original, fragt Platon weiter. Schließlich könne jeder Gegenstand von verschiedenen Seiten betrachtet werden und erscheine jeweils anders. Der Maler als Nachbildner eines einzelnen, willkürlich herausgenommenen Blickes bleibe deshalb der Welt des Scheins verhaftet. Sein Werk stelle niemals das Ding an sich dar. Die Kunst, so Platons Schlussfolgerung, gleiche einer Täuschung. Ein ausgewählter Blick werde für das Ganze genommen und die Nachbildnerei sei ein Spiel mit Illusionen. Der Künstler sei im Übrigen der Versuchung ausgesetzt, gefallen zu wollen und Werke zu schaffen, die ohne Reflexionsaufwand verstanden werden.

Die Praxis der Fotografie legt eine Parallele zur Tätigkeit des platonischen Malers nahe.

Mehr noch, sie entspricht deutlicher als jedes auf der Leinwand entstandene Werk dem Begriff des Nachbildens. Lässt man digitale Bearbeitungen oder analoge Techniken wie Doppelbelichtungen, Retuschen und Dunkelkammermanipulationen unberücksichtigt, ist das Kamerabild unmittelbar wirklichkeitsgebunden. Kurz, Platon scheint recht präzise den Prozess des fotografischen Abbildens vorweggenommen haben zu. Unbedingte Objektivität oder Wahrheit sind nicht zu erwarten. Die Fotografie eines Gegenstandes ist nicht identisch mit dem Gegenstand selbst. Stets ist sie aus einer bestimmten Perspektive aufgenommen, aber man hätte auch eine andere wählen können. Darüber hinaus reduziert das fotografische Bild die dreidimensionale Wirklichkeit auf eine zweidimensionale Ebene. Sie ist eine Abstraktion.

Warum können wir trotz der reduzierten Eigenschaften des fotografischen Bildes die abgebildeten Gegenstände in der Regel richtig deuten? Woher wissen wir, aus welcher Perspektive auch immer aufgenommen, dass es sich um die Fotografie eines Bettes handelt? Die Erklärung folgt Platon, denn sie verweist neben dem Bild des Bettes und dem wirklichen Bett auf die dritte Erscheinungsform, die begriffliche. Nur weil uns eine kognitiv abgespeicherte Vorstellung eines abstrakten, generalisierten Bettes zur Verfügung steht, können wir ein fotografiertes Bett identifizieren. Egal, ob das Bild ein hölzernes, vergoldetes oder ein Wasserbett zeigt, egal, ob es sich um ein Einzel-, Doppel- oder Etagenbett in der Jugendherberge handelt, egal, ob es im Ikeakatalog abgebildet ist oder der Reportage über den feudalen Palast eines Mafiabosses entstammt, wir verstehen die Fotografie als Abbildung eines Bettes. Das ist nur möglich, weil wir neben den wirklichen und den abgebildeten Betten über die abstrakte Begrifflichkeit und über das Wissen bezüglich der Funktion eines Bettes verfügen. Es ist die universelle Idee eines Bettes.

Während Platon von einer göttlichen Ideenwelt ausging, die den Begriff vorgibt, bringen wir dessen Existenz heute mit einem säkularen Lernvorgang in Verbindung. Das Kind kommt nicht mit einem angeborenen Apparat von Begriffen zur Welt. Sie werden ihm auch nicht göttlich eingeimpft. Das Kind wird im Verlaufe des Sozialisationsprozesses mit den Normen und den Objekten der Kultur vertraut gemacht. Zentrales Medium ist dabei die Sprache, ohne die es keine Begriffe und kein Denken gibt. Nur weil wir über einen begrifflichen Vorstellungsapparat in Gestalt abstrakter Ideen verfügen, können wir Fotografien verstehen. Obwohl sie stets perspektivgebunden sind und niemals ein Objekt an sich zeigen.

Einige der Überlegungen zum Verhältnis des Bildes zur Realität sind auch mehr als zwei Jahrtausende nach Platon in den Diskursen zur Fotografie erkennbar.

Die Neue Sachlichkeit und die Subjektive Fotografie nahmen hier prinzipiell gegensätzliche Positionen ein. Albert Renger-Patzsch gehörte zu denen, die den technischen Charakter des fotografischen Bildes betonten. Da das Kamerabild die sinnlich erfahrbare Wirklichkeit auf neutrale Weise wiedergebe und nicht ein Ergebnis freier Subjektivität sei, unterscheide es sich grundlegend vom künstlerischen Gestalten des Malers. Aus ähnlichen Gründen verstand sich auch Cartier-Bresson nicht als Künstler, sondern als Handwerker. Beide einte eine Sichtweise, die den reproduktiven Charakter der Fotografie betonte. Dort befindet sich die Wirklichkeit, und hier, in einem direkten Entsprechungsverhältnis, ihr Abbild. Die Komplexität, die Platon zwischen einem Objekt und dessen Abbildung erkannte, wurde von der sich selbst als sachlich verstehenden Fotografie nicht für relevant gehalten. Ganz anders die Subjektive Fotografie. Otto Steinert hob die Gestaltungsmöglichkeiten des Fotografen hervor und wies die Vorstellung eines einfachen, neutralen Widerspiegelungsverhältnisses zurück. Vielmehr könne sich der Fotograf vom Diktat des Realistischen befreien, indem er das Gestaltende über das Reproduktive stelle und seine persönliche Sichtweise zum Ausgangspunkt des Bildes mache. Dokumentarische Fotografie bedeute technische Reproduktion, subjektive Fotografie hingegen schaffe etwas Neues und unterscheide sich nicht von anderen Formen realitätsgelöster Kunst.

Die Verbindung zwischen Vorbild und Abbild realisiert sich in einem Prozess, der seit der Antike unter dem Begriff Mimesis erörtert wird. Gemeint ist Nachahmung oder, vereinfacht, Verdoppelung. Dieses Verständnis setzt die Annahme einer von jeder Erfahrung unabhängigen Realität voraus.

Genau dies blieb für das philosophische Denken nach Platon ein Problem. Existiert ein Baum, auch wenn es keinen Betrachter gibt, der ihn wahrnimmt? Eine Frage, die mit unbedingter Gewissheit nicht zu beantworten ist. Unabhängig davon haben Kognitionspsychologie und Erkenntnistheorie die Komplexität des Prozesses deutlich gemacht, in dem sich Wissen gleichermaßen wie Realität überhaupt erst konstituieren. Das erinnert an die Geschichte von der Henne und dem Ei. Grund genug, den seit der Antike etablierten Dualismus zu relativieren oder gar in Frage zu stellen. Wenn die Realität eine interpretationsbedürftige Angelegenheit ist, die einen Erkennenden voraussetzt, dann ist auch das Konzept einer eindeutigen Verdoppelung von Realität unsicher geworden.

Der Mimesisbegriff hat sich von Platon und Aristoteles bis zu modernen Erkenntnistheorien weiterentwickelt. An die Stelle einer abgesicherten Weltsicht sind Zeichen getreten. Sie repräsentieren nicht nur das, was wir Wirklichkeit nennen, sondern sind gleichermaßen konstitutiv für unser Wissen von dieser Wirklichkeit. Dies gilt sowohl für das systematisch strukturierte Wissen in Form von Empirie und Theorie wie auch für das subjektive Weltbild jedes Einzelnen. Die Annahme zeitloser, ewigwährender Wahrheiten ist weder kollektiv noch individuell haltbar. Thomas Kuhn hat dies für die Wissenschaften anhand ihrer Paradigmenwandlungen gezeigt, Karl Popper Ähnliches im Rahmen des Kritischen Rationalismus. Und bezüglich des individuellen Bewusstseins hat die Psychologie seit Freud hinreichend deutlich gemacht, dass wir bevorzugt das wahrnehmen, was wir wahrnehmen wollen.

Genau betrachtet, war auch das antike Mimesisverständnis durch einen aktiven Anteil des Nachahmenden geprägt. So geht es laut Aristoteles bei der Kunst nicht nur um die Idee einer simplen Realitätsverdoppelung, sondern um die sinnliche Wahrnehmung wie auch deren Interpretation und schließlich die bewusste Ausgestaltung des eigenen Handelns. Das kindliche Lernen galt ihm als typisch für diesen Prozess. Es ahmt spielerisch nach, zunächst noch unbeholfen und mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, dann immer präziser. Wir bezeichnen dies heute als Sozialisationsprozess. Durch spielerische Imitation wird das Kind Teil der Gesellschaft und erlernt die Bedeutung gegebener Verhaltensmuster. Dies gilt gleichermaßen für das Handeln wie für die Sprache. Weil sich auch Platon dieser Prozesse bewusst war, hatte er hinsichtlich Poetik und Bühnenspiel großen Wert auf die ausschließliche Darstellung des Positiven und Erwünschten gelegt. Er fürchtete die üblen Folgen schlechter (Vor-)Bilder.

Aristoteles sah dies anders und schrieb auch den von Platon verdächtig erscheinenden Künsten eine potenziell aufklärerische Funktion zu. Nicht nur Erhabenes, sondern alles Anregende, selbst das Tragische, sei geeignet, das Gemüt zu berühren und auf kathartische Weise Erkenntnisse zu fördern. Die künstlerische Darstellung des Triebhaften und Unbewussten könne durchaus einen reflexiven Umgang mit den dunklen Seiten des Lebens bewirken. Mit Zensur jedenfalls, so Aristoteles, könne den Leidenschaften nicht zu Leibe gerückt werden. Für Platon war die Annäherung an das Reich der Wahrheit und des Guten nur durch den Gebrauch der Vernunft und die Kontrolle der Leidenschaften vorstellbar. Bei Aristoteles lag die Wahrheit hingegen nicht in einer jenseitigen Ideenwelt, sondern im realen, den Menschen umgebenden Kosmos und im Menschen selbst. Man müsse dies nur erkennen. Die drei Welten Platons sind bei Aristoteles auf zwei reduziert. Oberflächlich gilt die Alltagwelt des Scheins. Wer genauer hinschaut, erkennt als zweite Welt die tieferen Wahrheiten des Naturschönen.

Susan Sontag hat sich in ihren Essaybänden von 1977 und 2003 wiederholt mit dem ethischen Potential der Fotografie befasst.

Die Arbeit mit der Kamera kann zur Bekräftigung von Werthaltungen beitragen. Häufig jedoch bleiben Fotografien von Krieg, Gewalt und Armut folgenlos, da die Medienwelt permanent neue Schrecknisse offeriert. Die Bilder verlieren an Wirkung, selbst wenn immer wieder Sensationelles präsentiert wird. Neben dieser, an Platon erinnernden skeptischen Sichtweise entwickelt Sontag eine aristotelische Perspektive. Offenbar gibt es Aufnahmen, bei denen kein Verfallsdatum für den Schock eintritt. Bei einigen Bilder aus dem Vietnamkrieg war dies der Fall, etwa dem der Erschießung eines mutmaßlichen Vietcong durch den Saigoner Polizeichef auf offener Straße oder dem des nackten Mädchens, das vor einem Napalmangriff flieht. Solche Bilder haben sich fest im kollektiven Gedächtnis eingeprägt.

Sontag war sich im Jahr 2003 ihrer skeptischen Thesen von 1977 nicht mehr so sicher. Es müsse nicht alles unter der Perspektive einer schleichenden Gewöhnung betrachtet werden. Warum, fragt sie, solle man nicht das Recht haben, sich emotional vom Leiden anderer abzugrenzen und in der Distanz zu bleiben? Es erschien ihr zulässig, Bilder als schockierend zu empfinden, ohne selbst einen Schock zu erleiden. Den Verstand zu gebrauchen, um eine Fotografie zu analysieren, habe nichts mit emotionaler Kälte oder Teilnahmslosigkeit zu tun. Vielmehr könne es dazu beitragen, das Bewusstsein für die Ursachen der Schrecknisse zu schärfen, um dann, und erst dann, sinnvoll zu handeln. Sontag ging damit über ihre früheren Positionierungen hinaus. Aber 9/11 sowie die Reaktionen Amerikas hatten zwischenzeitlich noch einmal deutlich gemacht, dass Gewalt nicht nur eine Angelegenheit fremder Menschen in einem fernen Teil der Welt ist, sondern hautnah die eigenen Freunde und Verwandte treffen kann. Die voyeuristische Haltung im Fernsehsessel funktioniert vor dem Hintergrund des real gewordenen Todes jedenfalls nicht mehr. Ähnliches gilt für intellektuelle Spielereien, die nur simulierte Realitäten kennen und die Abdankung der Wirklichkeit verkünden. Dies sei, so Sontag, Zynismus aus der bequemen Ferne. Bilder konkreten Leidens sind mehr als poststrukturalistische Zeichen aus einer relativen Welt uneindeutiger Wirklichkeiten oder platonischer Höhlenkonstrukte. Der gezeigte Schmerz ist real.

Zurück zu den Schatten. Sie sind Teil des Lebens, so wie es keine Schatten ohne Sonne gibt.

Sie können uns stoisch begleiten, sie können sich dehnen, um dann wieder zusammenzuschrumpfen, und sie leben sogar unter Wasser. Schatten begegnen uns täglich und haften den Dingen dieser Welt an wie temporäre siamesische Zwillinge. Als Metapher können sie verschiedene Erscheinungsformen und Bedeutungen annehmen. In der Fotografie schließlich gehören sie zu den bildprägenden Elementen. Ohne Schatten bliebe alles eine recht flache Angelegenheit. Eine Reise durch die Welt der Schatten führt von allerlei mystischen Erscheinungen bis zur Dekonstruktion fotografischer Bilder, aber auch zur Wiederentdeckung der Wirklichkeit.

Die Metapher vom Auftauchen aus der Schattenwelt ist zum Kernthema unzähliger Geschichten geworden. Mal sind es Botschaften, die aus dunkler Quelle stammen und mysteriöse Aufträge verteilen, mal sind es Geister, Zombies oder Abgesandte finsterer Mächte, die emporsteigen und sich die Welt des Lichtes vorknöpfen. Oder es geht, in einem gänzlich anderen Sinne, um ein Leben in der Schattenwelt, womit meist die Realität von Menschen ohne gültige Ausweispapiere gemeint ist. Sie halten sich in einem Reich der Finsternis auf und sind im bürgerlichen Verständnis nichtexistent. Es ist ein Reich, das Anlass gibt für wilde Phantasien und wüste Projektionen. Sehnsuchtsort hingegen wird die Schattenwelt, wenn wir bei brütender Hitze den Folgen des Klimawandels zu entkommen versuchen. Der Schatten als Gegenspieler von Licht und Sonne zieht uns dann magisch an, die Konnotationen vertauschen sich. Mein Freund, der Schatten.

Szenenwechsel: Alexander der Große im Gespräch mit Diogenes, dem er die Erfüllung eines Wunsches verspricht. Wir kennen die Antwort und rätseln ein wenig, ob sie Ausdruck einer kleinen unbotmäßigen Frechheit gegenüber der Macht ist oder stoische Weisheit, die nichts benötigt außer etwas ungetrübtem Licht. Keine Reichtümer, keinen Luxus, keine Statusattribute. Geh mir aus der Sonne. Vielleicht auch in der freundlichen Variante: Tritt doch bitte ein wenig beiseite, damit ich in der Wärme sitzen kann. Alles ist gesagt. Wie auch immer. Was auch immer. Alexander mag darüber nachgedacht haben bis an das Ende seiner Tage.

Dritter Anlauf. Die Allerweltsprüche. Schatten begegnen uns in weisen Verkleidungen, deren Sinn nicht selten gefälligen Banalitäten verdächtig nahekommt. Da wird über Schatten gesprungen oder eben auch nicht, der Kurschatten ist hinter einem her oder man wird vom Detektiv beschattet, jemand wird in den Schatten gestellt oder man selbst steht in jemandes Schatten, es holen einen die Schatten der Vergangenheit ein oder die Zukunft wirft solche voraus, man ist ein Schatten seiner selbst, vor dem man sich fürchtet oder dem man nachjagt, schließlich hat man denselbigen unter den Augen oder komplett. Im letzten Fall leidet man, ebenfalls umgangssprachlich, an einem Tick. Formuliert man den Sachverhalt weniger volkstümlich, kommt man an Carl Gustav Jung nicht vorbei. Er definiert das Phänomen, einen Schatten zu haben, als Archetypus, mit dessen Bewältigung sich der Mensch mitunter lebenslang herumplagt. Seine Schatten stehen den sozial unerwünschten und häufig unterdrückten Leidenschaften nahe, die nach der erzwungenen Integration in die gesellschaftliche Normalität als unbewusste Triebreste verkümmern und das bürgerliche Leben zur Qual machen. Die Negation der Impulse mag allerlei individuelle Symptome auslösen oder zu Projektionen führen, die sich gegen einen selbst oder andere richten. Die Herausforderung besteht darin, sich dieser Schatten bewusst zu werden, sie in einem gereiften Stadium der eigenen Entwicklung zum akzeptierten Teil der Persönlichkeit zu machen und sich so die Fähigkeit zu erarbeiten, über den eigenen Schatten zu springen.

C. G. Jung war, darf man vermuten, Adelbert von Chamissos Roman Schlemihl aus dem Jahr 1813 bekannt, die Geschichte des Mannes, der dem Teufel für ein Säckchen Gold seinen Schatten verkauft, um dann festzustellen, dass ihn die Gesellschaft fortan meidet. Die Schattenlosigkeit macht ihn zu einem unheimlichen Sonderling, der dem Sonnenlicht keinen körperlichen Widerstand bietet. Er ist vollständig durchsichtig und ohne Substanz. Nachdem alle Versuche scheitern, den unseligen Deal rückgängig zu machen, bleibt ihm nur ein Leben als Naturforscher, der heimatlos und ohne soziale Bindungen durch die Welt zieht. Thomas Mann hat Schlemihls Schattenlosigkeit mit dem Verlust der bürgerlichen Ehre gleichgesetzt. In gewisser Weise entspricht dies dem Schattenverständnis von Jung, nur mit anderem Vorzeichen. Der Schatten galt Jung als Inbegriff des Kampfes der Leidenschaften mit dem Normengeflecht der Gesellschaft. Die Wirkung einer selbstbewussten Ablösung von ihnen fand seine Sympathie. Thomas Mann hingegen bedauerte mitfühlend Schlemihls Leiden außerhalb der Konventionen.

Die Veröffentlichung des Schlemihl zu Beginn des 19. Jahrhunderts erfolgte in vorfotografischer Zeit. Bis zur Erfindung der Daguerreotypie sollten noch einige Jahre vergehen, aber über die Laterna Magica, bühnentaugliche Schattenspieltechniken und den Scherenschnitt hatte man sich bereits mit verschiedenen Erscheinungsformen gegenständlicher Projektionen befasst. Chamisso muss insbesondere den Scherenschnitt vor Augen gehabt haben. Mit ihm wurden physiognomische Besonderheiten hervorgehoben, um so das Individuelle einer Person kenntlich zu machen. Dem armen Schlemihl war nach seinem Tauschgeschäft genau dies versagt. Ohne Schatten war er ein Nichts oder gar Abgesandter des Teufels.

Bereits im 18. Jahrhunderts nutzte man die Entdeckung der Lichtempfindlichkeit von Silbersalzen, um Schattenabdrücke von Pflanzen und anderen Gegenständen anzufertigen, indem man sie auf eine präparierte Trägerfläche legte und dem Licht aussetzte. Ergebnis waren Umrissbilder, die zunächst noch flüchtig waren, da sie sich nicht fixieren ließen. Dies sollte den späteren Pionieren der Fotografie vorbehalten bleiben, denen es mit ihren objektivbestückten Kameras gelang, freie Raumaufnahmen anzufertigen. Im Übrigen wurden die Bilder nun chemisch fixierbar und waren anschließend dauerhaft konserviert. Aber soweit war man im 18. Jahrhundert noch nicht. Die flüchtigen Abdrücke jener Zeit dienten vor allem als Silhouettenvorlage für Schattenzeichnungen und Scherenschnitte. Pflanzen jeglicher Art waren beliebte Motive, da sich ihre filigrane Struktur wirkungsvoll darstellen ließ.

Als es im Geleitzug der Fotografie möglich wurde, Kontaktkopien direkt zu fixieren, ohne sie per Hand in eine Schattenzeichnung übersetzen zu müssen, wurde deren Eigenschaft als Eins-zu-Eins-Schatten erst so richtig bewusst. Die gepressten Pflanzen hatten auf dem Bild einen exakten Abdruck hinterlassen, identisch mit der Kontaktfläche von Pflanze und Untergrund. Es handelte sich um eine einzigartige Erscheinungsform des Schattens. Zunächst war von ihm nichts zu sehen. Er blieb unter dem Objekt verborgen. Erst nach Entfernung des Gegenstandes und Fixierung des Bildes wurde seine vorangegangene Existenz nachträglich belegt.

Technologisch und als Konzept handelte es sich bei Schattenrissen und den frühen Fotogrammen um Vorläufererscheinungen der Fotografie. Schon bei ihnen ging es um die Frage, wie sich Dinge bildlich konservieren ließen, um sie in Erinnerung behalten oder besser studieren zu können. Licht und Schatten spielten die entscheidenden Rollen. Gleichwohl gibt es Unterschiede zwischen dem Fotogramm und einer Fotografie. Die Eins-zu-Eins-Abdrucktechnik des Fotogramms führt zu einem phänomenologisch anderen Ergebnis als die Aufnahme durch das Kameraobjektiv. Eine Fotografie ist, technisch bedingt, durch den Brennpunkt des Objektivs geprägt, während es sich beim Fotogramm um eine perspektivfreie Draufsicht handelt. Fotogrammkünstler des Zwanzigsten Jahrhunderts wie Christian Schad, Man Ray oder László Moholy-Nagy betonten, dass Schattenbilder nichts mit der klassischen Fotografie zu tun hätten. Gemeinsam sei ihnen lediglich der Gebrauch lichtempfindlichen Materials. Und dennoch, beim Fotogramm handelt es sich um einen Schlüssel zur Fotografie, da hier die Funktionen von Licht und Schatten noch deutlicher hervortreten als bei der Bildgestaltung mit der Kamera.

Verlassen wir die Welt der Schattenrisse und des Fotogramms und widmen uns dem Schattenboxen als Kampf gegen einen unsichtbaren Gegner, dem man jede beliebige Kraft und Geschicklichkeit zuschreibt, um diese anschließend im fiktiven Kampf zu übertreffen. Nur selten, sagt man, geht der Schattenboxer dabei in die Knie. Vielleicht, wenn er über die eigenen Beine stolpert. Oder den eigenen Schatten? In der Regel verlässt er den imaginären Ring jedoch als Sieger. Eigentlich eine ideale Konstruktion. Zunächst wird ein starker Gegner erfunden. Diesen schickt man auf die Bretter, um sich selbst als Helden feiern zu lassen. Fast so schön wie Luftgitarre spielen. Nur noch übertroffen von einem Schattenkabinett, das in einem phantastischen Schattenreich zur Steuerung der Schattenwirtschaft politische Schattenspiele aufführt.

Bevor die Betrachtung der Schattenanalogien zu weiteren Ufern getrieben wird, soll die Sache ordentlich und mit System angegangen werden. Das mag ein wenig langweilig klingen, muss aber sein, wenn wir dem Wesen des Schattens auf die Spur kommen wollen.

Beginnen wir mit einem lexikonnahen Bestimmungsversuch. Demnach handelt es sich beim Schatten um die Projektionsfläche eines Körpers, die sich von einer helleren Umgebung abhebt. Je schärfer das Licht, umso schärfer die Schattenkante. Ist die Lichtquelle diffus, wirkt auch der Schatten weicher. Physiker mögen das präziser formulieren, für unsere Zwecke genügt die Annäherung. Ohne Licht im Übrigen auch keine Fotografie. Und bekanntlich gibt es dort, wo Licht ist, auch Schatten. Ausnahmen gibt es lediglich bei der Reproduktion vollkommen planer Flächen, zum Beispiel der Fotografie einer Fotografie.

Ein Schatten lässt sich betrachten und fotografieren wie feste Materie, man kann ihn aber nicht anfassen. Er besitzt keine materielle Substanz, die man konservieren könnte, obwohl für jeden sichtbar und deshalb nicht abstrakt. Die Gesamtheit dieser Eigenschaften macht ihn zu einer einzigartigen Angelegenheit. Zwar nicht glamourös, aber aufgrund seiner Nichtfassbarkeit für gottesnahe Bilder und Geschichten bestens geeignet. In der Bibel wird deshalb gerne und häufig Gebrauch gemacht von Schatten jeglicher Art. Da ist Mose, der die Bitte äußert, Gott endlich einmal sehen zu dürfen. Dieser gibt ihm zu verstehen, dass der Wunsch nicht erfüllbar sei, da jeder, der sein gleißendes Licht erblicke, daran zugrunde gehen müsse. Es ließe sich aber einrichten, dass Mose in einer Felskluft stehe, während er, Gott, beim Vorübergehen seine schützende Hand über ihn halte, so dass der Blick abgeschattet sei. Anschließend könne Mose hinter ihm hersehen, aber eben nicht in das Angesicht. Gott bildet in dieser Konstellation gleichermaßen das Licht wie den schützenden Schatten, eine Einheit, die im Irdischen nicht vorstellbar ist.

Dann gibt es die Psalmisten, die Analogien zum Schatten nutzen, um seine mannigfaltigen Eigenschaften kenntlich zu machen. Da wird unter dem Schatten von Flügeln frohlockt oder Zuflucht gesucht, das Leben selbst wird wie ein flüchtiger Schatten betrachtet, der sich spurlos auflöst. Ungläubige Kleingeister werden als schemenhafte Schatten gezeichnet und ebenso regelmäßig wie reichlich wird mit den Schatten des Todes gedroht. Neben dem guten Schatten, der Mose beschützte, kennt die Bibel somit auch die negativ konnotierte, finstere Variante. In jedem dieser Fälle wird der Schatten mit Sinn aufgeladen. Stets hat er eine Bedeutung. Dies unterscheidet ihn vom fotografierbaren Schatten der Realwelt. Hier macht oder hat er keinen Sinn, er ist einfach da, hat keine Bedeutung an sich. Er ist lediglich das universell erkennbare Ergebnis einer physikalischen Konstellation.

Mitunter greift der Schatten zu Tricksereien.

In Friedrich Nietzsches Psychologie über Das Menschliche und das Allzumenschliche taucht im zweiten Band ein Schatten auf, der beharrlich einem Wanderer folgt und mit diesem einen Dialog beginnt. Mal scheint es sich bei dem Schatten um ein alter ego des Wanderers zu handeln, mal, fast wie bei Freud, um einen vom Bewusstsein abgespaltenen Teil der Persönlichkeit mit Eigenleben. Beide philosophieren über allerlei Angelegenheiten dieser Welt, bis Nietzsche mit einem Wortspiel den Dialog beendet. Der Schatten bittet seinen Partner, dieser möge doch unter die Fichten treten und sich nach den Bergen umsehen. Der Wanderer tappt in die Falle, so dass ihm nach dem Verschwinden seines Begleiters nur die Frage bleibt: Wo bist du?

Der eigene Schatten kann ausgelöscht werden, indem man in einen anderen Schatten tritt. Sind mehrere Lichtquellen vorhanden, gilt das zwar nur eingeschränkt, da in diesem Fall mehrere Schatten geworfen werden. Aber das nur nebenbei. Bleiben wir bei der einfachen Anordnung, so frisst der eine Schatten den anderen, oder gepflegter ausgedrückt, der Schatten des Wanderers wird zur Teilmenge des Schattens der Fichten. Physikalisch mag das nicht hundertprozentig korrekt sein, da man bei bestimmten Beleuchtungssituationen durchaus auch einen Schatten im Schatten erkennen kann. Eine weitere Möglichkeit zur Auslöschung des Schattens besteht darin, die eben gedanklich noch verworfene zweite Lichtquelle ins Spiel zu bringen. Leuchtet man einen Schatten nur intensiv genug aus, verschwindet er ebenfalls. Während alles, was ist, erst durch Licht sichtbar gemacht wird, gilt beim Schatten das Umgekehrte: Durch Licht kann er vernichtet werden. Übrig bleibt die Erkenntnis, dass es sich beim Schatten um ein einzigartiges Phänomen handelt. Nichts sonst ist mit seinen Qualitäten vergleichbar.

Der Schatten verweist, ohne selbst von materieller Substanz zu sein, auf etwas, das ist. Er ist ein Hinweis auf die Existenz von Objekten, kulturunabhängig und losgelöst von allen Sinnfragen.

Man muss einen Schatten nicht verstehen, man muss nicht deuten können, von was er ein Schatten ist. Nahezu jeder erwachsene und geistesklare Mensch auf der Welt wird dennoch einen Schatten als Schatten wahrnehmen. Das Erkennen und Verstehen eines Computers, eines Schachspiels oder einer Plastik von Joseph Beuys ist nur zeit- und kulturabhängig vorstellbar. Kein von Menschen hergestelltes Objekt besitzt eine Bedeutung an sich. Der Sinn wird ihm erst durch Erfahrungen und als Ergebnis eines sprachgebundenen Lernprozesses zugeschrieben. Mit den Schatten verhält es sich demgegenüber eher wie mit den Wolken, der Sonne oder dem erdigen Boden. Alle Menschen dieser Welt, zu allen Zeiten und in allen Kulturen, kennen Wolken, die Sonne und die Erde. Und sie kennen Schatten, d.h. sie kennen die Tatsache des Schattens, ohne unbedingt zu wissen, wodurch er hervorgerufen wurde. Selbst ein völlig unbekanntes Objekt, das im Blick eines Betrachters keinerlei Sinn macht, wirft Schatten, sofern es einer entsprechenden Beleuchtung ausgesetzt ist. Der Betrachter muss die Dinge nicht verstehen. Dennoch weiß er, dass ein Schatten immer ein Schatten von etwas ist.

Der Schattenbeweis ist dennoch kaum geeignet, auch den letzten Radikalkonstruktivisten von der Existenz der Wirklichkeit zu überzeugen. Wer der solipsistischen Vorstellung anhängt, alles Wahrgenommene sei lediglich eine Funktion der Hirntätigkeit, wird sich in seiner Auffassung kaum beirren lassen. Ansonsten kann der reale Schatten in der uns umgebenden Welt als ein Indiz, also als relativer Beweis, für das Vorhandensein einer subjektungebundenen Realität betrachtet werden. Mehr nicht. Aber das ist nicht wenig. Gleichwohl taugt im digitalen Zeitalter nicht jeder fotografierte Schatten als Hinweis auf die Existenz eines Objektes. So wird die mit Photoshop auf den Kürfürstendamm platzierte und mit kunstvollem Schatten versehene Giraffe stets als Fälschung erkennbar sein, wenn auch vielleicht nur für den Profi mit entsprechenden Analysemöglichkeiten. Und es gibt Schatten, die Rätsel darstellen, wenn sie etwa auf ein Objekt außerhalb des Bildes verweisen. Hier bleibt Skepsis angebracht. Ein solcher Schatten mag echt, kann aber auch digital gezaubert worden sein.

Im Werk der spät entdeckten Vivian Maier gibt es eine Reihe von Fotografien, die neben dem Hauptmotiv einen Schatten zeigen. Oder ist der Schatten das Hauptmotiv?

Zahlreiche der Bilder tragen den Titel Selbstportrait. Hier ist die Antwort offensichtlich, auch wenn die Titel nicht von Maier selbst stammen, sondern von den posthumen Herausgebern. Sind die Schatten aber vielleicht gar nicht Bestandteil der Aufnahmesituation gewesen, sondern als Mittel der Bildwirkung später hinzugefügt worden? Man kann das ausschließen. Vivian Maier hat überwiegend mit der analogen Rolleiflex gearbeitet, digitale Kameras gab es noch nicht. Schatten als Ergebnis nachträglicher Bildmontagen kommen deshalb kaum in Betracht. Darüber vertrat sie einen Stil, der nicht auf Effekte setzte, sondern eine durchkomponierte Bildgestaltung. Ihre Schatten dürfen demnach als echt angesehen werden. Damit sind sie ein evidenter Hinweis auf den schattenwerfenden Menschen hinter der Kamera. Dieser Mensch ist, natürlich, Vivian Maier selbst.

Ihre Schattenbilder sind raffinierte Angelegenheiten, die verschiedene Wahrnehmungsebenen berühren. Zunächst ist der Schatten Bestandteil des als Fläche gestalteten Bildes. Fragen der Proportionen, der Hell-Dunkel-Verteilung, der Perspektive oder der Tiefenwirkung wurden im Augenblick der Aufnahme unter Einbeziehung von Schattenpartien beantwortet. Ebene Eins betrifft demnach die Gestaltung. Darüber hinaus gibt der Schatten einen Hinweis auf den Kamerastandpunk. Dieser lässt sich rekonstruieren, da Maiers Aufnahmen meist mit ausgeprägter Vordergrundbetonung entstanden. Wir wissen also, von wo das Bild aufgenommen worden ist. Ebene Zwei betrifft damit die Ortsbestimmung. Die dritte Ebene lässt sich als Wissen um die Zentralperspektive beschreiben. Aufnahmestandort plus Schatten der Fotografin heben die Tatsache ins Bewusstsein, dass das Bild mit Hilfe einer Kamera entstanden ist, dessen Objektiv die Wirklichkeit technisch bedingt aus einem monoperspektivischen Blickwinkel sieht. Dieser Blickwinkel ist dem der Fotografin ähnlich, auch wenn die Rolleiflex in Bauchhöhe gehalten wurde. Schließlich kommen wir zur vierten Ebene. Diese betrifft den Urheberverweis. Nimmt man alle Ebenen zusammen, wird deutlich, dass es sich bei der Fotografie um das Ergebnis einer Bildkonstruktion handelt. Die Aufnahme wurde von Vivian Maier bewusst auf diese Weise gestaltet.

Damit lässt sich das Wesen eines fotografischen Bildes vollständig erkennen. Es ist nicht ein Stück Wirklichkeit in Miniaturformat, sondern bildet eine Entität eigener Art.

Am augenfälligsten zeigt sich dies bei der Umgestaltung der dreidimensionalen farbigen Realität in eine zweidimensionale schwarzweiße Fläche. Hinzu kommt der zentralperspektivische Blick der Kamera, der eine Bildwirklichkeit entstehen lässt, die dem menschlichen Auge nahekommt, aber nicht die einzige Möglichkeit der Bildgestaltung darstellt. Der uns gewohnt erscheinende zentralperspektivische Bildaufbau ist historisch sogar relativ neu und überdies stark kulturgebunden. Die seit der Renaissance aufkommende Zentralperspektive entspricht dem Blick eines Individuums, das seine Sichtweise auf die Wirklichkeit zum Maßstab des Bildes macht. Bei den Aufnahmen Vivian Maiers ist die Fotografin in Gestalt ihres Schattens sogar selbst zum Bestandteil des Bildes geworden. Dadurch rückt sein konstrukthafter Charakter ins Bewusstsein. Dies lässt sich auf jede Fotografie übertragen, auch wenn sie keinen Schatten der Fotografin oder des Fotografen zeigt.