Der fotografische Eintopf

In den 1910er Jahren begegneten sich in New York der Fotograf und Galerist Alfred Stieglitz sowie der Installationskünstler Marcel Duchamp. Im Umfeld der Galerie 291, die eine Plattform für Avantgardistisches bot, tauschten sie Gedanken über Kunst und Ästhetik aus. Duchamp soll dabei einmal auf die Frage, wie er es mit der Fotografie halte, sinngemäß geantwortet haben, dass er sie verehre, da sie die Malerei zu verachten lehre. Dies gelte aber nur solange, bis ein künftiges Medium seinerseits die Fotografie verachte. Ob Duchamp dies wirklich gegenüber Stieglitz äußerte oder vielleicht eher im Rahmen eines Briefwechsels mit dem Dichter und Kunstkritiker Henri-Pierre Roché, war nicht zu verifizieren. Glaubwürdig ist Duchamps Verdikt hinsichtlich der Fotografie jedoch allemal. Schließlich nahm er jede künstlerische Darstellungsform aufs Korn, sobald sie als etabliert und von allgemeinem Wohlwollen getragen galt. Denn Kunst müsse das Gegenteil von dem sein, was von ihr erwartet werde. Alles andere sei, so unsere Interpretation Duchamps, langweilig.

Artefakte No. 2

Bürsten wir sein Verdikt jedoch einmal gegen den Strich: Zwar hatte Duchamp davon gesprochen, dass die Fotografie die Malerei zu verachten gelehrt habe, aber dies konnte zu Beginn des 20. Jahrhunderts eigentlich nur für deren etablierte Erscheinungsformen gelten. Naturalismus und Realismus waren in der Tat durch die Fotografie herausgefordert und in Frage gestellt worden. Die realistische Abbildung konnte von der Fotografie viel besser geleistet werden. Für die Malerei entfiel deshalb der Zwang zur exakten Widergabe der Wirklichkeit. Sie konnte nun, ganz befreit, impressionistisch, expressiv und schließlich vollkommen abstrakt werden. Im fotosinn Essay Befreiung von der Malerei ist dieser Paradigmenwandel der Malerei näher beschrieben worden.

Wie aber könnte der zweite Teil der Äußerung Duchamps verstanden werden, dass nämlich ihrerseits die Fotografie in Frage gestellt sei, wenn sie durch ein neues Medium verachtet werde? Halten wir uns beim Versuch einer Antwort nicht beim Begriff der Verachtung auf, sondern stellen, in Analogie zum Paradigmenwechsel in der Malerei, die Frage, was denn die Fotografie befreien könnte. Und befreien von was? Vielleicht davon, dass der Begriff Fotografie heutzutage zu einem bunten Eintopf geworden ist, in den gänzlich unterschiedliche Dinge eingerührt werden, sobald sie nur irgendwie mit fotografischer Technik zu tun haben, und sei es noch so peripher.

Die Diversifikation beim technisch erzeugten Bild hat seit dem Beginn vor zweihundert Jahren kontinuierlich zugenommen. Aber auch davor gab es Hybride: Durch Licht erzeugte Abdrücke, etwa von Pflanzen, bei denen chemische Substanzen zum Einsatz gekommen waren, um das Bild, zumindest eine Zeit lang, zu stabilisieren, oder die Camera obscura, deren Bildprojektionen sich nicht fixieren ließen, sondern nachgezeichnet werden mussten. Aber das waren Vorformen, die eigentliche Geschichte des technisch erzeugten Bildes begann mit den Fotografien von Niépce und Daguerre in den 1820er und 30er Jahren.

Die analoge Fotografie beherrschte nun für die nächsten Jahrzehnte das Feld des technischen Bildes, bis sich in den 1920er Jahren neue experimentelle Formen hinzumischten. Die Fotogramme von Christian Schad, Man Ray, Lucia Moholy, László Moholy-Nagy und anderen knüpften am Prinzip der vorfotografischen Lichtabdrücke an, konnten diese nun jedoch technisch überzeugender realisieren, da in der fotografischen Dunkelkammer die notwendigen chemischen Entwicklungs- und Fixierungsverfahren zur Verfügung standen. Obwohl ohne Einsatz einer Kamera hergestellt, wurden die Fotogramme in der Regel als eine Erscheinungsform der Fotografie verstanden.

Wiederum einige Jahrzehnte später hatte sich das Verständnis von Fotografie um weitere Verfahren erweitert. Das International Center of Photography in New York unternahm deshalb im Jahr 2014 den Versuch einer Bestandsaufnahme hinsichtlich der zeitgenössischen Fotokunst. Die Ausstellung What Is a Photograph? zeigte, was nun alles dazugehörte. Mal war das fotografische Bild zum Bestandteil von Performances geworden, Polaroids wurden mechanisch oder chemisch manipuliert, bei der Entwicklung analogen Materials wurden prozessuntypische Chemikalien verwendet, Negative wurden gezielt beschädigt, etwa durch Hitzeeinwirkung, Fotografien wurden übermalt, es gab alle möglichen Spielarten von Fotogrammen, skulptural geformte meterlange Fotopapiere und vieles andere mehr. Alles das wurde unter dem Oberbegriff Fotografie zusammengefasst, jedenfalls in der Praxis vieler Galerien und Museen. Fotografie wurde im Prinzip gleichgesetzt mit dem technisch erzeugten Bild. Im fotosinn Essay Fotografie als Skulptur werden einige Aspekte der Begriffserweiterung näher beschrieben.

Und dann die digitale Revolution. Mit Hilfe von Photoshop und Co. lassen sich seitdem gespeicherte Bildinformationen soweit verändern, bis im Gegensatz zum analogen Negativ von dem ursprünglichen Realitätsbezug der Aufnahme nicht mehr viel übrigbleibt. Aber die Ergebnisse können dennoch wie Fotografien aussehen und werden auch so verstanden. Über die ontologischen Unterschiede zwischen der analogen und der digitalen Technik ist von Theoretikern viel geschrieben worden, für die Praxis hatte dies jedoch so gut wie keine Bedeutung. Analog oder digital, alles gilt als Fotografie. Diese Naivität wurde erst mit dem Auftauchen KI-erzeugter Bilder erschüttert. Seitdem sind die Dinge ein wenig komplizierter geworden. Mit KI-Programmen erzeugte Artefakte können, wenn sie gut gemacht sind, wie Fotografien aussehen, obwohl sie ein reines Ergebnis von Programmierung und Rechnerleistung sind. Nun gut, könnte man sagen, auch sie sind technisch erzeugte Bilder. Warum dann die Aufregung?

Die Frage ist berechtigt, zumal der Übergang zwischen einer digital aufgenommenen und bearbeiteten Fotografie sowie einem reinem KI-Bild fließend ist. Allerdings würde der fotografische Eintopf bei einer solchen Gleichsetzung eine weitere Zutat erhalten, die das Ganze nicht unbedingt bekömmlicher macht. Kurz, der Begriff Fotografie läuft Gefahr, nun komplett auszufransen und dermaßen unscharf zu werden, dass er am Ende gar nichts mehr aussagt. Vielleicht macht es deshalb Sinn, einzelne Erscheinungsformen technischer Bilder wieder voneinander abzugrenzen. Boris Eldagsen, einer der gegenwärtig aktivsten Protagonisten KI-erzeugter Bilder, hat im Übrigen schon einmal den Vorschlag unterbreitet, diese als Promptografien zu bezeichnen und nicht mehr als Fotografien. Dies erscheint als ein richtiger Ansatz. Ob sich der Begriff Promptografie etablieren kann, ist eine andere Frage.

Bildet man anhand definierter Kriterien typisierende Gruppen, können qualitative Unterschiede technischer Bilder deutlich gemacht werden. Solche Abgrenzungen sind zwar immer das Ergebnis eines normativen Prozesses und andere Prämissen könnten zu anderen Ergebnissen führen. Aber will man die Komplexität der Erscheinungsformen technischer Bilder reduzieren, kommt man um Grenzziehungen nicht herum. Der undefinierbar und matschig gewordene Eintopf spricht jedenfalls dafür, einen solchen Weg zumindest probehalber zu gehen. Und dennoch könnte eingewendet werden: Warum das Ganze? Es handelt sich doch einfach nur um Bilder, egal, wie sie entstanden sind! Klingt sympathisch nach Anything goes, würde allerdings den Verzicht auf Reflexion bedeuten und die Unterscheidbarkeit einer wahren/wahrhaftigen Fotografie von einer freien Phantasieschöpfung bzw. einer Manipulation vollkommen unmöglich machen.

Kommen wir zurück zu Duchamps Gedankengang. Vielleicht ist der Einbruch der KI in die Welt der Fotografie genau der Punkt, an dem ihr bisheriges Verständnis als eintopfartiges Allerlei zu überdenken ist. Könnte das neue Medium KI die Fotografie etwa vom Zwang zum immer spektakuläreren, phantastischeren Bild befreien? Könnte dies die Rückkehr zu einem radikal klassischen Begriff von Fotografie zur Folge haben, gar zum analogen Paradigma als der Urform, bei der es nicht, wie heute in der digitalen Welt üblich, um hemmungslose Bildbearbeitungen geht? Mag sein, dass dieser Gedanke zu weit gefasst ist, da sich auch mit digitaler Technik wahre bzw. wahrhaftige Bilder erstellen lassen. Diesen kann das Label Fotografie kaum verwehrt werden, wenn sie den Verzicht auf sinnverändernde Bildbearbeitungen plausibel nachweisen. Sinnverändernd wären Eingriffe, die über Helligkeits- oder Kontrastanpassung, Weißabgleich, Schärfung oder Ähnliches hinausgehen. Eine Hinzufügung oder Entfernung von Pixeln wäre jedoch grundsätzlich ausgeschlossen. Entsprechende Regeln für den Authentizitätsbeweis digitaler Dokumentarfotografien werden gegenwärtig in der journalistischen Fachszene diskutiert. Gut so! Ob für die freie und Kunstfotografie die Anforderungen ähnlich streng zu formulieren wären, ist eine andere Frage. Aber irgendwo muss eine Grenze gezogen werden. Massiv bearbeitete Dateien, die zu Bildern führen, die kaum noch einen Wirklichkeitsbezug aufweisen, sind nun einmal keine Fotografien mehr. Gleichwohl können es beeindruckende Bilder sein.

Einige Probleme bleiben ungelöst. Verliert ein Bild wirklich schon dann seinen Status als Fotografie, wenn mit Photoshop ein unwichtiges, als störend empfundene Detail entfernt wird, ohne dass sich durch die Pixelmanipulation die Sinnaussage der Aufnahme verändert? Oder was ist mit inszenierten Kamerabildern, wenn etwa von Bildjournalisten Kriegsbeteiligte, direkt oder indirekt, zum Posing aufgefordert oder motiviert werden? Hier werden zwar keine Pixel verändert und es handelt sich, so gesehen, um Fotografien, aber wahr oder wahrhaftig sind solche Bilder nicht wirklich. Andererseits gibt es die ebenfalls inszenierten Bilder einer Cindy Sherman: Sie sind Fotografien im hier gemeinten Sinne, weil die Inszenierung nicht verheimlicht wird, sondern zum Bestandteil des Bildkonzeptes gehört. Der Begriff der Wahrheit oder Wahrhaftigkeit eines Bildes taugt also nicht als Abgrenzungskriterium zwischen Fotografie und Nichtfotografie. Eher ist es die Frage der Pixelveränderung. Und noch ein weiteres Beispiel für Definitionsprobleme: Ob es im allgemeinen Verständnis Konsens finden würde, die Bilder eines Andreas Gursky nicht als Fotografien zu bezeichnen, da sie ja das Ergebnis digitaler Montagen sind, darf bezweifelt werden. Weitere Fragen zu Abgrenzungsproblemen sind nicht auszuschließen.

Gleichwohl deutet sich ein Schisma an: Auf der einen Seite gibt es analog oder digital erstellten Kameraaufnahmen ohne sinnverändernde Bearbeitungen, die sich als Fotografien bezeichnen lassen, und auf der anderen Seite Bilder, die mit allen möglichen technischen, auch fototechnischen Verfahren erzeugt wurden und andere Labels erhalten sollten: Promptografien, Fotogramme, analoge oder digitale Collagen, Photoshopkunst, virtuelle Realität, was auch immer. Im Kern geht es darum, den Begriff Fotografie zu schärfen und aus dem eintopfartigen Allerlei zu befreien. Dies würde nicht bedeuten, dass die Bilder aus den verschiedenen Entstehungswelten auf einer imaginären Bewertungsskala unterschiedliche Ränge einnähmen. Es ginge einzig darum, den Begriff Fotografie überlegter zu benutzen, als es in den letzten Jahrzehnten im Namen grenzenloser Kunst hier und dort üblich geworden ist.

Beim oben gezeigten Bild handelt es sich übrigens nicht um eine Fotografie, sondern um eine Collage.

Zurück
Zurück

Anarchie im fotografischen Bild

Weiter
Weiter

Photographie auf dem Zauberberg