Lyonel Feininger als Fotograf

Wer in den 1960er und den nachfolgenden Jahren fotografisch sozialisiert wurde, ist mit einiger Wahrscheinlichkeit der Fotolehre von Andreas Feininger begegnet. Damals ein Standardwerk. Nach der von den Nazis erzwungenen Flucht der Familie aus Deutschland wurde er vor allem durch seine Fotografien New Yorks bekannt. Auch die Brüder Laurence und T. Lux sowie die Schwester Eleonore waren schon seit Anfang der 1920er Jahre künstlerisch aktiv. Man sagt, dass die Befassung des Vaters mit der Fotografie nicht zuletzt auf ihren Einfluss zurückgeht, denn Lyonel Feininger fing erst um 1928 an, mit der Kamera zu arbeiten. Es entstanden zahlreiche Experimente und Straßenfotografien, viele davon in Dessau, Halle oder im thüringischen Gelmeroda. Die aktuelle Ausstellung in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt a. M. zeigt einige davon.

Es brauchte ein paar Jahre, bis sich Lyonel Feininger nach der Berufung an das Bauhaus durch Gropius im Jahr 1919, damals noch in Weimar, mit der Fotografie zu befassen begann. Dem Konzept Kunst und Technik hatte er zunächst noch skeptisch gegenübergestanden. Mit der Programmatik seines Kollegen László Moholy-Nagy, der 1923 an das Bauhaus kam, konnte er sich nicht so recht anfreunden. Dies änderte sich in den Folgejahren. Einige der nun entstandenen Experimente mit starken Auf- und Untersichten waren für die damaligen Sehgewohnheiten ungewöhnlich. Aus heutiger Sicht kann man sie dem Neuen Sehen zurechnen. Sie erinnern an Alexander Rodtschenko, der seine Fotografien ebenfalls jenseits des konventionellen Bauchnabelblicks gestaltete, der eine typische Folge des bis zum Aufkommen der Leica vorherrschenden Lichtschachtsuchers war. Feininger fotografierte jedoch zunächst noch mit einer herkömmlichen Glasplattenkamera. Eine Leica legte er sich erst 1931 zu. Dennoch zeigte sich schon 1928 die eher konstruktivistisch orientierte Seite seines Schaffens, die sich auch in den parallel entstandenen Gemälden wiederfindet.

Hinzu kamen Experimente mit nur vage steuerbaren Doppelbelichtungen und allerlei Unschärfen sowie Lichtreflexionen und Negativkopien. Diese Fotografien wie auch die atmosphärisch dichten Ergebnisse nächtlicher Streifzüge, vorzugsweise bei Regen, Schnee oder Nebel, versperren sich einer Zuordnung zur Neuen Sachlichkeit. Während Moholy-Nagy als Perfektionist galt, ließ Feininger im expressionistischen Sinne ganz bewusst auch fotografische Fehler zu. Ob es darum ging, zufällig entstehende Muster und Strukturen festzuhalten, oder ob er damit den nicht vollständig kontrollierbaren Besonderheiten des Mediums Fotografie Rechnung tragen wollte, sei dahingestellt. Die beiden Möglichkeiten, sachliche Darstellung oder subjektive Gestaltung, begleiten die Fotografie jedenfalls bis heute. Sie waren immer auch Bestandteile der Gemälde Feiningers.

Lyonel Feininger hinterließ etwa 20.000 Negative und Dias. Zahlreiche von ihnen entstanden nicht so sehr aus der Intention, für sich selbst stehende fotografische Werke zu schaffen, sondern waren als Hilfsmittel für die Vorbereitung von Gemälden gedacht. Aber es ist dennoch reizvoll, die in gewisser Weise eigenständige fotografische Identität Feiningers zu entdecken. Die aktuell gezeigte Auswahl in Frankfurt macht dies deutlich.

Die Ausstellung Lyonel Feininger in der Schirn Kunsthalle kann noch bis zum 18. Februar 2024 besucht werden. Sie zeigt im Hauptteil zahlreiche der klassischen Gemälde Feiningers und ist ein Museumshighlight dieses Jahres. Der Begleitkatalog ist bei Hirmer erschienen, ein lesenswerter Überblick zur Ausstellung findet sich im Magazin FeuilletonFrankfurt.

Vor einigen Jahren ist bei Hatje Cantz der Bildband Lyonel Feininger. Fotografien 1928 – 1939 erschienen. Der Verlag transcript hat für Februar 2024 Splendid Material – Fotografische Praxis und Bildgenese im Werk von Lyonel Feininger angekündigt. Weitere Informationen mit Beispielen zum fotografischen Werk Feiningers bieten die Website Harvard Art Museums und zum Gesamtwerk, wie so oft empfehlenswert, das Archiv des Museum of Modern Art.

 

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