Klare Zeilen und weise Tage

Bei Fotografien sind wir es gewohnt. Meist werden sie nachträglich bearbeitet und gefällig gemacht. Vergleichbares gibt es in der Schriftform. Bei belletristischen Werken spielt das naturgemäß keine Rolle. Anders ist dies bei Texten, die einen tagebuchähnlichen Charakter aufweisen. Wurden ursprüngliche Eintragungen vor einer Veröffentlichung verändert, erweckt dies einen manipulativen Eindruck bezüglich der einstmaligen Schreibsituation. Der Leser hat nun einmal die Erwartung, dass dem Tagebuch etwas Authentisches anhaftet. Schließlich wird es gelesen, um ein Bild von der Gemütslage und Denkweise des Autors oder der Autorin und ihren Entwicklungen zu gewinnen. Nachträgliche Änderungen machen misstrauisch und verderben die Laune.

Ein wenig wird man die Dinge jedoch relativieren müssen. Jedem Tagebuchschreiber steht das Recht zu, vor einer Veröffentlichung Dinge wegzulassen. Insbesondere berührt dies eigene Intimitäten oder bestimmte Angelegenheiten Dritter. Sollten jedoch Passagen gestrichen oder bearbeitet werden, um klüger zu erscheinen, als man einst war, so führt dies in eine Grauzone. Seine Ansichten zu ändern, kann ein Zeichen von Weisheit sein. Sollte jedoch im Nachhinein der falsche Eindruck entstehen, ein Tagebuchschreiber habe schon immer die jetzige Erkenntnis gehabt, könnte dies unangenehm wirken. An irgendeiner Stelle beginnt die Fälschung. Man kann es aber auch freundlicher ausdrücken: Der Autor kuratiert sein Leben.

Soweit die Vorbemerkungen. Machen wir es konkret. Von Peter Sloterdijk liegt der dritte Teil seiner Notizen Zeilen und Tage vor. Sie betreffen die Jahre 2013 bis 2016. Sloterdijk hat die Bezeichnung Notizen gewählt, ein Tagebuch im strengen Sinne soll es also nicht sein. Gleichwohl weist das Werk einen tagebuchähnlichen Charakter auf, mit Datum und Ortsangabe der Aufzeichnungen, zusätzlich dokumentiert durch die Nummerierung der originalen Hefte. Das Buch ist ein Zwitter. Tagebuch oder literarisches, gar philosophisches Werk? Das ist hier die Frage, um im Jargon zu bleiben.

Sloterdijk überlässt die Interpretation dem Leser. Er selbst spricht in den Vorbemerkungen von Aufzeichnungen, ein Begriff, den man gemeinhin mit Video- oder Audiomitschnitten assoziiert. Klug, wie Sloterdijk ist, betont er deshalb, dass seine Notizen keinen Anspruch auf Faksimilequalitäten erheben. Er beanspruche als Autor sowohl die Freiheit des Weglassens, zwei Drittel der ursprünglichen Aufzeichnungen seien übergangen worden, wie auch die der Verdeutlichungen, die sich so nahe wie möglich an den ursprünglichen Text hielten. In einigen Fällen, fügt Sloterdijk hinzu, mischen sich Erweiterungen ein, um dem damals knapp Notierten durch zusätzliches Volumen besser gerecht zu werden.

Es ist eine harmlos klingende Formulierung, die jedoch Möglichkeiten der Interpretation eröffnet. Das Volumen der Erweiterungen kennen wir schließlich nicht. Wir haben es somit auf der einen Seite mit Streichungen zu tun, andererseits mit Erweiterungen. Die genaue Rezeptur ist unbekannt. Das bringt sensibel gestimmte Saiten zum Klingen.

Und damit sind wir beim Thema unserer Betrachtungen. Ganz ähnlich wie bei geschönten Fotografien, ganz zu schweigen von KI-erzeugten Fakes, stellt sich bei der Lektüre der Notizen die Frage nach deren Authentizität. Wobei diese Frage auf ein neues Thema hinweist. Was heißt denn Authentizität? Ist es die Übereinstimmung eines Medienproduktes, Bild oder Text, mit der Wirklichkeit zum Zeitpunkt des Entstehens? Weitere Fragen würden sich anschließen. Was ist Wirklichkeit, und so weiter. Und dann wiederum neue Denkspiele. Wir ersparen uns den Rückweg zur Frage aller Fragen des Seins. Übrig bleibt bei pragmatischer, also lebenspraktisch sinnvoller, Betrachtung die Erwartung, dass ein veröffentlichtes Tagebuch, ebenso wie eine Fotografie, ein wahrhaftiges Zeugnis seiner Entstehungssituation offeriert. Bearbeitungen ohne Sinnveränderung wären demnach tolerierbar, aber Eingriffe mit der Gefahr eines Zerbröselns der Wahrhaftigkeit könnten wie Schummelei wirken. Vielleicht ist das alles jedoch viel zu eng gedacht und das sich zeitgeistig ausbreitende Recht, die eigene Vergangenheit in der öffentlichen Darstellung zu kuratieren, also freihändig auszugestalten, steht über allem. Jeder Einwand verböte sich dann.

Und so lässt sich lange, am Ende aber ergebnislos, darüber spekulieren, ob Sloterdijks Notizen eine authentische Wiedergabe einstmaliger Denkprozesse darstellen, oder ob nicht ein paar narzisstische Neigungen zum nachträglichen Schönfärben beigetragen haben könnten. Ob es um den Krieg in der Ukraine geht, um die Persönlichkeiten bekannter Potentaten, Migrationsfragen, den Islam oder die Politik arabischer Länder und der Türkei, mitunter hat man bei der Lektüre den Eindruck, der Autor habe schon immer gewusst, was erst später nach und nach ins Bewusstsein auch allgemeinerer, breiterer Denkschichten einsickerte. Von Schlaumeierei soll dabei gar nicht die Rede sein. Vielleicht war er wirklich schon immer klüger als die meisten anderen. Aber wenn beim Leser, und sei es an einer noch so kleinen Stelle der Lektüre, der Verdacht entsteht, es könne sich um eine geschönte Bearbeitung ursprünglicher Gedanken handeln, strahlt dies subkutan auf das gesamte Buch aus. Dieses wird dadurch nicht entwertet, aber die Authentizität seines Tagebuchcharakters löst sich in Luftiges auf. Dies hätte vermieden werden können, wenn die textlichen Erweiterungen als solche erkennbar wären.

Unter dem Strich jedoch ist das alles zu vernachlässigen. Die Zeilen und Tage III von Peter Sloterdijk sind absolut lesenswert, gerade auch, weil sie geeignet sind, eingefrorene Denkformen aufzubrechen. Sie tragen dazu bei, versuchsweise einmal gegen den Strich zu fabulieren. Nach der Lektüre des Buches denkt man, anfangs vielleicht noch misstrauisch sich selbst gegenüber, ein wenig anders als zuvor. Welche Bücher können das schon von sich behaupten?

Die Empfehlung: Man/frau lese Sloterdijks Notizen nicht als Tagebücher, die sie ja auch nicht sein wollen, sondern als feuilletonistische Beiträge zum Zeitgeschehen, die mit gehörigem Tiefgang versehen sind und sich gerne einmal gegen den Zeitgeist auflehnen. Man muss dem nicht in jedem Detail zustimmen. Nachdenklich machen sie allemal. Ob es sich um Philosophie handelt, mögen andere beurteilen. Dass jedoch, nicht selten, die akademische Lehrstuhlphilosophie vorsichtshalber einen Bogen um Sloterdijk einschlägt, macht diesen eher sympathisch als verdächtig. Das Buch Zeilen und Tage III ist bei Suhrkamp erschienen.

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Empfindsamkeit oder Empfindlichkeit

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Lyonel Feininger als Fotograf