Essay 02

Das Fremde und die Moral

Für den Katalog zur Weltausstellung der Photographie, die im Jahr 1964 in verschiedenen europäischen Städten stattfand, verfasste Heinrich Böll einen Prolog, der sich mit dem moralischen Potential der Fotografie und der Gratwanderung zwischen einer voyeuristischen, effektheischenden und mitunter menschenverachtenden Darstellung auf der einen Seite und den Möglichkeiten einer empathischen, respektvollen Form andererseits beschäftigt. Wer am Schlüsselloch lauert, entdeckt natürlich den Menschen in seiner Gebrechlichkeit, so Böll. Und genau hier scheidet sich die Moral von ihrem Gegenteil. Das besondere Schicksal Einzelner lässt sich fotografisch so darstellen, dass diese ihre Würde behalten und das Bild als potentielles Schicksal aller verstanden werden kann, oder es spielt sich die Intention des Fotografen in den Vordergrund, zu ertappen, zu denunzieren, zu entlarven.

Im Zeitalter der massenhaften Sensationsfotografie mit dem Smartphone und einer Straßenfotografie, der inzwischen zwar einige rechtliche Hemmschuhe angelegt worden sind, die aber hier und dort weiterhin das Elende, Skurrile und Lächerliche zu suchen scheint, behält die Warnung vor dem Voyeuristischen ihre Berechtigung.

Susan Sontag sah die Dinge voraus. Im Essayband Über Fotografie aus dem Jahr 1977 beschrieb sie ihre Skepsis, was die Rolle der Kamera im Kontext aufklärerischen Denkens anbelangt.

Als unbestreitbar galt Sontag, dass auch eine sozialkritische, sich als humanistisch verstehende Fotografie keine moralischen Positionen schaffen kann. Die Arbeit mit der Kamera mag dazu beitragen, bestehende Werthaltungen zu verstärken. Ist ein normativer Orientierungssinn aber nicht vorhanden oder nur schwach ausgeprägt, bleiben Fotografien von Gewalt und Armut mit großer Wahrscheinlichkeit ohne wirkliche Folgen für die eigenen Einstellungen. Die Bilder sind dann bestenfalls geeignet, einen Anschein von Teilnahme zu erwecken. Aber das Gewissen beruhigt sich schnell. Im Übrigen ist die Menge bedrückender Bilder in den alltäglichen Medien nicht frei von einer Tendenz zur Abnutzung. Zwar können Fotos erschrecken, der Effekt schwächt sich jedoch mit jeder Wiederholung ab. Soll die Wirkung erhalten bleiben, muss die Dosis erhöht werden. Und dennoch, auch solche Bilder sind nur selten Anlass für ein aktives Auftreten gegen die Übel der Welt.

Insbesondere die Elendsfotografie war in Sontags Augen eine ambivalente Angelegenheit. Schon immer habe sie Unterdrückung, Armut und Gewalt zu einem bevorzugten Thema gemacht, typisch für eine indifferente Geisteshaltung in der wohlmeinenden Mittelschicht. Nicht selten empfinde deren Humanismus fremdes Elend als schaurig reizvollen Kontrast zum eigenen, beschützten Dasein. Oder die Kamera dient der Schaffung gestalterisch durchkomponierter Bilder ohne wirklichen Bedrohungscharakter für das Seelenheil. So lässt sich selbst dem vielfach hochgelobten Sebastiao Salgado vorhalten, den Fokus seiner Aufnahmen vorwiegend auf ästhetische Aspekte gelegt und die reale Lebenssituation indigener Völker romantisierend verklärt zu haben. Das Feld der Dokumentarfotografie ist in solchen Fällen zugunsten der Wirkung verlassen. Ob von einer Ausbeutung der Objekte gesprochen werden kann, ist keine einfache Frage. Dokumentation auf der einen Seite und artifizielle Gestaltung andererseits scheinen jedoch in einem Spannungsverhältnis zu stehen.

Beim ambitionierten Fotografieren interessiert das Objekt vor der Kamera oftmals nur indirekt. Im Vordergrund steht das gedanklich antizipierte Bild. Das Objekt ist Mittel zum Zweck, primäres Ziel eine Aufnahme, die als Beweis für das Können des Fotografierenden gilt. Die Beachtung und der Ruhm richten sich schließlich auf ihn und sein Bild, nicht aber auf das ursprüngliche Objekt. In gewisser Weise ist dies der fotografischen Technik geschuldet. Jede Aufnahme ist von den Lichtabstrahlungen eines Gegenstandes abhängig. Nicht das Objekt an sich ist entscheidend, sondern seine Spuren auf dem Speichermedium. Die Realität wird instrumentalisiert, ein Bild wird geschossen. Sich etwas nehmen. To take a picture. Die Sprache beschreibt den Prozess recht genau. Gemeint ist vor allem die ambitionierte oder auch künstlerische Fotografie mit expliziter Ästhetik, weniger das schnelle Smartphonebild ohne große Ansprüche. Und auch die ehrliche Dokumentarfotografie will etwas anderes. Bei ihr behalten die Objekte, zumindest bis zu einem gewissen Grad, ihre eigenständige Bedeutung.

Während der Fokus des Gelegenheitsfotografen darauf gerichtet ist, die Freunde, die letzte Urlaubsreise und die Paddeltour festzuhalten, interessiert sich der ambitionierte Fotograf für die artifizielle Wirkung seines Bildes. Er ähnelt dem Maler, insbesondere seit dieser im 19. Jahrhundert durch die Erfindung der Fotografie von Dokumentationsaufgaben entbunden wurde. Nun musste er sich nicht mehr mit Realitätsbezügen befassen und konnte, zunächst noch zögerlich, beginnen, sich vollständig der freien Gestaltung der Leinwand mit Hilfe von Formen, Oberflächenstrukturen und Farben zu widmen. Der Bildinhalt mag banal oder vollkommen abstrakt sein, entscheidend ist die wirkungsvolle Gestaltung der ursprünglich leeren Fläche. Wird der Blick des Betrachters gefesselt, ist das Ziel erreicht. Die künstlerische Fotografie hat im Zwanzigsten Jahrhundert einen ähnlichen Weg beschritten und folgt nicht selten einer Malerei mit gelockertem Gegenstandsbezug. Die experimentelle Fotografie verfügt über die Freiheit, sich vom dokumentarischen Paradigma zu lösen.

Vieles im Leben hat zwei Seiten. Eindeutiges ist rar und Ambivalenzen müssen ausgehalten werden.

Die Lösung der Fotografie vom Realismusdiktat hat zu ihrer Subsumierung als Kunstgattung beigetragen und jede Menge Freiheitsräume geschaffen. Andererseits bleibt ihre technisch begründete Bindung an die Realitäten der Außenwelt bestehen, auch wenn diese in Zeiten der digitalen Fotografie brüchig geworden ist. Somit ist die Frage nach dem Sinn und der Bedeutung einer Fotografie immer noch anders zu beurteilen als die vergleichbare Frage, wenn sie an ein gemaltes Bild gerichtet wird. Dieses bedarf keiner Erklärung oder Begründung. Der Betrachter ist hinsichtlich seiner Interpretation frei. Genauso frei, wie es der Maler war, als er das Werk schuf. Bei einer Fotografie hingegen schwingt stets die Überlegung mit, woher die abgestrahlten Lichtspuren stammen und was es mit der ursprünglichen Realität auf sich hat. Es sind Fragen nach der Herkunft der fotografischen Beute und nach der Wahrhaftigkeit des Bildes.

In einem Interview mit dem Spiegel äußerte sich im Jahr 1994 der damals 71jährige Richard Avedon zu einigen grundsätzlichen Fragen der Fotografie. Natürlich, so Avedon, müsse man als Fotograf jedes Bild moralisch vertreten können. Man dürfe niemandem schaden, nur um ein starkes Bild zu bekommen. In den Ohren heutiger Medienkonsumenten mag das ein wenig altmodisch klingen, denn nichts ist gefragter als das Skandalbild. Viele Motive sind im Übrigen so klischeebelastet, dass es besonderer Anstrengungen bedarf, allseits Gewohntes zu durchbrechen. Wer lediglich dem Mainstream folgt, reproduziert meist nur Abziehbilder bereits vorhandener Schemata. Die Fähigkeit zum befreiten Blick setzt jedoch voraus, einen autonomen Standpunkt einzunehmen. Letztlich handelt es sich auch dabei um eine Frage nach der Werthaltung. Die Überlegung, ob ein Foto öffentlich gezeigt werden kann, muss auf ethischer Basis entschieden werden. Es gibt Bilder, bei denen sich eine Verbreitung verbietet. Einige Aufnahmen von Opfern des Vietnamkriegs hat Avedon nie veröffentlicht.

Sexy Fotografie

Das Swinging London der Sechziger Jahre mit Carneby Street, Minirock und Hippiemusik diente als Kulisse des Kinoklassikers Blow Up, Gewinner des Filmpreises 1966 in Cannes. Allerlei Krimihaftes, ein Konzert der Yardbirds mit Jeff Beck und Jimmy Page sowie eine kornverrauschte Fotografie bilden die Eckpunkte des Plots. Der Film kreiert das Image eines Fotografen, der selbst zum sexy Popstar mit Playboyallüren wird. Ob als Vorbild der Vogue-Fotograf David Bailey diente oder doch eher Michael Cooper, guter Freund der Rolling Stones und auch verantwortlich für das Cover von Sgt. Pepper´s Lonely Hearts Club Band der Beatles, ist nebensächlich. Der von beiden verkörperte Typus des Pop-Fotografen inmitten einer Subkultur von Sex and Drugs and Rock´n Roll bildet den subkulturellen Rahmen von Blow Up. Allerdings nicht ohne Widersprüche. Vermischt werden im Film die befreienden Botschaften des Ausbruchs aus der konventionellen Nachkriegsgesellschaft voller Autoritätsgläubigkeit und Verklemmtheit mit am Ende doch wieder sattsam bekannten Geschlechterstereotypen. Der Popstar, ob auf der Bühne mit der Gitarre oder im Studio mit der Kamera, ist in der Regel ein Mann. Die Gerätschaft des Fotografen, ein Apparat mit beeindruckendem Objektiv, muss gar nicht als Phallussysmbol gedeutet werden, um das Bemühen zu erkennen, aus der eigenen dominanten Position heraus den komplementären Ort der Frau zu definieren. Sie ist meist Groupie oder Model und nicht selten bilden sich auf dieser asymmetrischen Basis auch die Muster für die sexuelle Begegnung. Dies muss nicht bedeuten, dass jede weibliche Rolle durch Passivität oder gar Opfermerkmale gekennzeichnet ist. Wer am Ende wen an der Leine führt, mag im Einzelfall eine offene Frage sein. Aber es ging in Antonionis Film und auch in der damaligen Realität um kollektiv wirkende Rollenklischees, und diese waren ziemlich klar. Der große schwarze Apparat trennte symbolisch die Geschlechterwelten vor und hinter der Kamera.

Noch ein Film. Auf der Welle der sexuellen Libertinage schaffte es in den Siebziger Jahren ein weiterer Fotograf in die Magazine und schließlich auch in das Kino. Die Rede ist von David Hamiltons weichgespülten Softpornos, in denen er seine nabokovhaften Männerphantasien auslebte. Die Nymphen, so nannte er die Mädchen, die sich vor der Kamera auszogen, verkörperten eine kitschige Lolita-Ästhetik, die eindeutig sexueller Natur war. Das Ganze changierte am Rande der Pädophilie oder hatte die Grenze zu ihr überschritten. Jahre später wurden Missbrauchsvorwürfe von Frauen bekannt, die als junge Mädchen von Hamilton fotografiert worden waren. Dieser schied im Jahr 2016 aus dem Leben, bevor es zu einer Klärung kam.

Dass sich unter dem Deckmantel der Befreiung neue Formen sexueller Machtverhältnisse entwickelten, ist hinlänglich bekannt. Das fing bei der vermeintlich freien Sexualität im Kommuneleben der Sechziger Jahre an und endet nach der Jahrtausendwende nicht bei den Skandalen um die Odenwaldschule oder den Missbrauchsserien in den Kirchen. Die Beispiele sind prototypisch und es ist mehr als ein Vorurteil, dass überwiegend Männer ihre sexuellen Interessen und Handlungen mit theoretischen Freiheitskonstrukten ummäntelten, um so das potentiell Asymmetrische der gesuchten Begegnungen unkenntlich zu machen.

Ein Beispiel aus neuerer Zeit für unterschwellig sexualisierte Fotografien ist der Bildband Genesis von Sebastiao Salgado, der nicht nur eine Reihe beeindruckender Naturaufnahmen, zeigt, sondern auch unbekleidete Kinder und junge Erwachsene indigener Kulturen. Die Bilder erinnern an die Völkerkunde der Kolonialzeit, als man ungeachtet der europäischen Prüderie fleißig Aufnahmen nackter Eingeborener jeglichen Alters anfertigte. Oder sie erinnern an Leni Riefenstahl. Oder an FKK-Blättchen der Fünfziger Jahre. Natürlich alles vollkommen harmlos. Die Aufnahmen Salgados weisen keinen offensichtlich sexuellen Charakter auf. Insofern gibt es einen Unterschied zu den Bildern Hamiltons. Und dennoch, bei Salgados Fotografien wird etwas als zulässig hingenommen, was bezüglich der Abbildung unbekleideter weißer Menschen jugendlichen Alters auch in liberalen Gesellschaften längst tabu ist.

Neben der Pädophiliefrage geht es um die bildliche Propagierung von Geschlechtsrollenstereotypen und ihre symmetrische beziehungsweise asymmetrische Aufladung. Es geht nicht um das Verbot einer Darstellung des Körpers an sich, nicht einmal um ein Pornografieverbot. In der Kunst einschließlich der Fotografie bleibt vieles zulässig. Entscheidend ist der Kontext. Es macht einen gravierenden Unterschied, ob das Bild ein unhinterfragtes Realitätsversprechen offeriert, oder ob es sich um Fotografien handelt, die den Betrachter auffordern, bei der Reflexion den Kontext sowie die eigene Stellungnahme einzubeziehen. Die Unterscheidung mag nicht immer leichtfallen und sie ist auch nicht unproblematisch. Aber gerade deshalb ist die Verantwortung des Akteurs hinter der Kamera von Bedeutung. Der adäquaten Kontextualisierung eines Bildinhaltes gerecht zu werden, gelingt aber auch dann nur, wenn die innere Haltung des Betrachters selbstkritisch entwickelt ist. Wer mit dem Weinstein-Virus infiziert ist, wird dies nicht leisten können.

 Die Kamera als maskulines Potenzmittel

Vor noch nicht allzu langer Zeit war der ambitionierte, überwiegend männliche Fotoamateur voller Stolz mit einer professionell erscheinenden Spiegelreflexkamera unterwegs, bestückt mit einem beeindruckenden Superzoom, das Ganze getragen am Kameragurt Sniper. Und nicht selten posierte er wie ein Scharfschütze. Die Begrifflichkeit ist kein Zufall. Schon immer wurden Kameras wie Waffen eingesetzt, von Paparazzi etwa, die ihr Opfer jagten, bis deren Fahrzeug an der Wand eines Pariser Straßentunnels zerschellte. Aber die Zeiten ändern sich. Als Folge des unaufhaltsamen Gebrauchs des Smartphones hat sich der allgemeine Charakter des Fotografierens gewandelt. Die Taschenkameras im Kleinformat sind vom Markt verschwunden, und auch die großen Schwarzen, ob nun mit oder ohne Spiegel, sind in der Öffentlichkeit immer seltener zu sehen. Gar mit einem großvolumigen Objektiv bestückt, handelt es sich um eine aussterbende Spezies, die meist nur noch von Tierfilmern, Sportfotografen oder auf der Parlamentsempore zum Einsatz gebracht wird. Aber dennoch, das Verständnis der Kamera als Jagdgerät hat eine lange Tradition. Dies sogar wörtlich genommen. In einschlägigen Zeitschriften und Internetforen für den Jäger werden Gerätschaften angeboten, die eine fotografische Fixierung des tödlichen Schusses versprechen. Mann will sich schließlich später daran erinnern, auf welche Weise da etwas zur Strecke gebracht wurde. In Frankreich ist das anders. Dort wurden Aufnahmen mit Kameras, die an Waffen befestigt oder Teil der Zieloptik sind, vor einigen Jahren verboten. Das Ansehen der Jägerschaft hatte aufgrund peinlicher Trophäenfilme im Internet zu sehr gelitten. Aber Shootings sind nun einmal mit beiden Geräten möglich. Und wem das eher miese Image des schießwütigen Jägers auf Dauer zu lästig wird, sattelt eben um auf das beindruckende Camouflage-Tele, mit dem man auf Fotosafari weiterhin den Großwildjäger spielen kann.

Die Bedienungen der Flinte und der Kamera folgen einer ähnlichen Logik. Zunächst wartet man auf den richtigen Augenblick, dann wird der Abzug beziehungsweise der Auslöser betätigt. Diese Parallelität hatte einstmals sogar Auswirkungen auf die Gestaltung der Apparatetechnik, etwa bei den Schnellschussobjektiven von Novoflex, die vor Jahrzehnten bei Sport- und Tierfotografen eine große Verbreitung fanden. Riesige Teleobjektive konnten mit dem Pistolengriff relativ schnell scharf gestellt und die Kamera ausgelöst werden. Autofokus war noch unbekannt. Das Ganze sah recht gewaltig aus, nicht unähnlich einer Panzerfaust. In der Sowjetunion hatte man bereits in den vierziger Jahren die Konvergenz vorangetrieben und den Holzschaft eines Gewehrs mit einer Kamera verbunden. Diese Konstruktion, die bis in die sechziger Jahre weiterentwickelt wurde, trug den Namen Photosniper. Eingestellt und ausgelöst wurde, wie bei den Novoflex-Objektiven, mit Hilfe eines Pistolengriffs. Aber auch diese Gewehrkameras hatten schon Vorläufer im 19. Jahrhundert. Musste Eadweard Muybridge für die Fotografien eines galoppierenden Pferdes noch bis zu 30 nacheinander ausgelöste Kameras einsetzen, benötigte Étienne-Jules Marey 1883 nur noch einen einzigen Apparat, mit dem eine ganze Belichtungsserie eingefangen werden konnte. Die Idee zu dieser Kamera hatte er von Jules César Janssen übernommen, dessen Astronomischer Revolver von 1874 dem Design der amerikanischen Waffenikone Colt nachempfunden war. Nach jeder Auslösung rotierte die Trommel ein Stück weiter, bis die gewünschte Sequenz in Einzelbildern aufgenommen war. Für astronomische Aufnahmen reichte die Geschwindigkeit des Gerätes vollkommen aus. Marey gelangen dann zehn Jahre später mit weiterentwickelter Technik aber auch Bilder mit deutlich schnellerer Taktung, die aufeinandergeschichtet wie Aufnahmen mit einem Stroboskopblitz wirkten.

Noch früher als die Erfindungen von Janssen und Marey datiert eine Begebenheit, auf die Lucia Moholy in A Hundred Years of Photography 1839 –1939 hingewiesen hat. Demnach wurde im Jahr 1860 in London ein Mann verhaftet, nachdem er eine Waffe auf Queen Victoria gerichtet hatte. Das Gerät stellte sich als Fotoapparat heraus. Sein Erfinder nannte ihn Pistolgraph. Thomas Skaife darf deshalb nicht nur als Konstrukteur, sondern als eigentlicher Begründer der mentalen Konvergenz von Waffe und Kamera gelten. Heute sind diese Erscheinungen im Bereich der Massenfotografie und auch die voluminösen Kameras so gut wie verschwunden und als Protzgeräte kaum mehr geeignet. Niemand erntet noch ehrfurchtsvolle Blicke, wenn er mit einer Bazooka daherkommt. Und kriegerische Heldenposen wirken eher lächerlich. Der Macho mit Kamera hat ausgedient. Das ganz große Besteck wird nur noch für wenige, überwiegend professionelle Spezialzwecke benötigt.

Alles nutzt sich ab. Die Faszination lässt nach.

Die Fotografie hat nach der Erfindung der Kleinbildkamera vor etwa einhundert Jahren durch Digitalisierung und Miniaturisierung eine zweite Demokratisierungswelle erfahren. Heute stehen für jedermann und jedefrau kleine Apparate mit Superzoom, Bildstabilisator, rauscharmen Sensoren und 4K Videomöglichkeit zur Verfügung. Oder das Smartphone, dessen Fotofähigkeit sich noch weiter entwickeln wird. Große Flintenkameras haben sich für den Alltag überlebt. Das mit ihnen einstmals verbundene martialische Gehabe des jagenden Fotografen ebenfalls. Der Faszinationscharakter fotografischer Geräte ist schwächer geworden. In der hochtechnisierten Welt gibt es genügend andere Spielzeuge, die mit der Kamera konkurrieren und auf die sich die vorwiegend männliche Technikaffinität richten kann. Gleichzeitig ist die Konjunktur der Fotografie in Galerien und Museen noch nie so stark gewesen wie heute. Von einer männlichen Dominanz der Besucher kann dabei nicht mehr die Rede sein. Ganz im Gegenteil, die Fotografie ist weiblicher geworden. Frauen stellen einen erheblichen Anteil der Besuchenden, und sie fotografieren wesentlich aktiver als in früheren Jahrzehnten. Dies gilt für die Gelegenheitsfotografie, zeigt sich aber auch bei der ambitionierten Fotografie und den Studierendenzahlen der Ausbildungsgänge. Die Fotografie und ihr Image haben sich von einer männlich dominierten Angelegenheit gelöst. Nicht zuletzt deshalb darf die Geschichte von der Kamera als Waffe als eine historische Kuriosität betrachtet werden. Was nicht ausschließt, dass sie hier und dort noch immer ein paar Anhänger findet.

Erst kommt das Foto, dann die Moral!

Dieser Imperativ ist heute kaum noch praktikabel, insbesondere wenn Moral nicht mit allgemeinen Verhaltensidealen assoziiert wird, sondern mit den rechtlichen Rahmenbedingungen des Fotografierens im öffentlichen Raum. Die Geschichte der Fotografie wäre eine andere, hätte es die aktuelle Gesetzeslage schon früher gegeben. Ein Großteil sozialkritischer Reportagen vergangener Zeiten wäre unter den Tisch gefallen. Hier sind der Fotografie nun viele Wege versperrt. Der Datenschutz wird bemüht, um im öffentlichen Raum Bildaufzeichnungen durch Privatpersonen zu erschweren. Dafür werden mal das Urheberrecht, mal der Persönlichkeitsschutz angeführt. Für die Arbeit mit der Kamera führt das zu Verunsicherungen und einer vorauseilenden Schere im Kopf. Hinzu kommt ein Wandel im Verständnis des öffentlichen Lebens. Bürgerliche Öffentlichkeit bedeutete einstmals, sich selbstbewusst zu präsentieren. Solange damit keine strafrechtlichen Handlungen verbunden waren, blieb es eine Frage der individuellen Courage, sich im Grenzfall auch lächerlich oder unbeliebt zu machen. Sich dabei fotografieren zu lassen, war meist kein Problem. Wer sich in der Öffentlichkeit aufhielt, bekannte sich zu seiner Eigendarstellung. Diese Unbefangenheit ist passé. Ähnlich wie in indigenen Kulturen früherer Zeiten gibt es eine zunehmende Furcht vor dem Fotografiertwerden, ganz so, als werde durch den Einsatz der Kamera die Seele geraubt.

Das Motto Erst kommt das Foto, dann die Moral stammt von Robert Lebeck, einem der profiliertesten Fotojournalisten der 1960er und 70er Jahre. Was auf den ersten Blick ein wenig abgebrüht klingt, verliert bei näherer Befassung seinen anrüchigen Charakter. Wer als Fotoreporter zu häufig nach der Erlaubnis zum Fotografieren fragt, wird es nicht weit bringen. Aber Lebeck betont auch, dass es nicht um ein bedenkenloses Draufhalten geht. Stets gebe es Grenzen des Erlaubten. Im Übrigen sei es eine falsche Erwartung, die Fotografie für moralische Zwecke oder als Schiedsrichter für das öffentliche Gewissen einsetzen zu wollen. Was die Zukunft anbelangt, war Lebeck skeptisch. Die klassische Bildreportage im Printformat erschien ihm vor dem Hintergrund der digitalen Medien als ein aussterbendes Genre.

Schon immer hat es Versuche gegeben, für Propagandazwecke durch Retuschen und Montagen, aber auch durch suggestive Bildgestaltungen, Botschaften zu vermitteln, deren Wahrheitsgehalt gegen Null tendiert.

Relativ neu sind Manipulationen im Videobild. Digitale Bearbeitungen machen Eingriffe bis hin zu frei erfundenen, ausschließlich am Rechner entstandene Szenen möglich. Die Optionen zur Schaffung virtueller Realitäten werden in absehbarer Zeit dazu führen, dass wir mit Avataren konfrontiert werden, die bekannten Persönlichkeiten bis aufs Haar gleichen. Digitale Klone werden uns die unglaublichsten Geschichten erzählen, und nur eine sorgfältig arbeitende Nachrichtenredaktion wird sich und uns davor schützen können, auf entsprechendes Bildmaterial hereinzufallen. Da helfen nur zwei Dinge, erstens eine Erhöhung der Medienkompetenz der Rezipienten, denen ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber allen politisch konnotierten Bildinformationen zu empfehlen ist, und zweitens eine Verstärkung forensischer Bildanalysen, die den technischen Fortschritten auf Seiten der Manipulateure mit ebenbürtigen Fähigkeiten zum Erkennen von Fälschungen gegenübertritt.

Der Fotograf und zeitweilige Präsident der Agentur Magnum, Stuart Franklin, hat in dem Buch The Documentary Impulse seine Erfahrungen als Bildjournalist zusammengefasst. Im Mittelpunkt seiner Betrachtungen stehen ethische und soziale Aspekte der tageaktuellen Berichterstattung, aber auch Fragen des Verhältnisses von Wirklichkeit und fotografischem Abbild. Eines seiner bekanntesten Bilder aus dem Jahr 1989, The Tank Man, zeigt einen mutigen Passanten mit Einkaufstüten in den Händen, der sich auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Beijing einer Panzerkolonne entgegenstellt. Das Time Magazin zählte den Tank Man zu den bedeutendsten Persönlichkeiten des Zwanzigsten Jahrhunderts. Das Foto gibt die pure Realität wider, seine mediale Verbreitung ist jedoch auch eine kritische Stellungnahme. Neutral, objektiv im normativen Sinne, ist das Bild nicht. Aber es ist wahrhaftig.

Die parallele Existenz von Faktenwahrheiten und moralischen Wahrheiten bedeutet im Umkehrschluss, dass sowohl irreführende Tatsachendarstellungen möglich sind wie auch Fotografien mit nicht-wahrhaftigen Botschaften. Dies dringt beim Fotografieren selbst und auch bei der Bildbetrachtung jedoch nicht unbedingt ins Bewusstsein. In der Geschichte der Fotografie gibt es dafür zahlreiche Beispiele. So wird schon bei den Bildern aus der Kolonialzeit deutlich, dass es oftmals nicht um eine neutrale Dokumentation fremder Kulturen ging. Vielmehr entstanden die Fotografien aus der unreflektierten Perspektive weißer Überlegenheitsüberzeugungen mit entsprechenden Konnotationen hinsichtlich des Fremden. Noch bei den heroisch anmutenden Nuba-Bildern Leni Riefenstahls wird dieser unterschwellige Rassismus deutlich. Ein ähnlicher Mechanismus wirkt bis in die Gegenwart. Einige der paradiesähnlichen Aufnahmen Sebastiao Salgados folgen dem kolonialen Muster. Es liegt Ihnen eine Ästhetik zugrunde, die nicht viel mit der alltäglichen Lebenswirklichkeit der indigenen Bewohner zu tun hat, sondern Ergebnis weißer Projektionen ist, begierig nach Bildern zivilisationsferner Naturursprünglichkeit. Letztlich handelt es sich um eine Neuauflage des Konzepts des Edlen Wilden. Es bleibt eine Gratwanderung, auf welche Weise andere Kulturen wahrgenommen und im Bild festgehalten werden. Die Dinge aus dem unreflektierten Blickwinkel eigener Gewissheiten zu betrachten und naiv drauflos zu fotografieren, genügt nicht. Ein romantisch verklärter Blick aber auch nicht.

Allein durch die Anwesenheit einer Kamera kann sich eine Situation verändern, ohne dass dies zu verhindern wäre. Da werden Eitelkeiten zur Schau gestellt, oder dem oder der Fotografierenden wird etwas vorgeführt. Anders stellt es sich dar, wenn die Protagonisten zur Inszenierung oder zur wirkungsvollen Pose aufgefordert werden. Bei Aufnahmen posierender Kriegskämpfer scheint dies nicht selten der Fall zu sein. Wo bleibt hier die Objektivität, das nüchtern Dokumentarische? Jede bewusst oder unbewusst inszenierte Fotografie hat mit dem Problem der Wahrheit zu tun. Eher zurückhaltend nähert sich Stuart Franklin vor diesem Hintergrund der Frage, wie Robert Capas berühmtes Bild aus dem spanischen Bürgerkrieg mit dem vermeintlich tödlich getroffenen, nach hinten stürzenden Soldaten zu beurteilen ist. Wahrscheinlich handelt es sich um eine gestellte Aufnahme. Capa hatte wohl die Idee vor Augen, das tausendfache wirkliche Sterben exemplarisch als drastische Inszenierung nachzustellen. Die mediale Verbreitung einer solchen Fotografie würden wir heute als Manipulation oder als Propaganda betrachten.

Die Dokumentarfotografie tritt mit dem Anspruch an, Wirklichkeit festzuhalten. Eine streng objektive Abbildung ist aber grundsätzlich nicht möglich.

Gleichwohl muss der Anspruch einer wahrhaftigen Fotografie nicht aufgegeben werden. Dokumentarfotografie soll nicht gestellt sein, fordert Franklin, die Abgebildeten sollen nicht bezahlt werden, es dürfen keine irreführenden Bildunterschriften oder andere Formen der Falschdarstellung Verwendung finden und schließlich sollen keine Pixel hinzugefügt oder entfernt werden. Und dennoch, Fotografien sind Konstrukte und Ergebnisse kulturgebundener Wahrnehmungen. Ein hiervon unabhängiges Bild ist aufgrund der sozialen, ethischen sowie ästhetischen Vorprägungen der Fotografierenden und Betrachtenden nicht vorstellbar. Dokumentarisch ist unter diesen Voraussetzungen eine Fotografie nur dann, wenn ihr Sinngehalt wahrhaftig und evident ist oder in Verbindung mit einem Bildtext evident gemacht wird. Dass dies in erster Linie in einem gemeinsamen Kulturraum von Fotograf und Betrachter leistbar ist, erscheint naheliegend. Man darf davon ausgehen, dass eine Fotografie vor allem dann adäquat verstanden wird, wenn beide durch ähnliche kulturelle und soziale Lernerfahrungen geprägt sind.

Ein unterlegter Bildtext folgt im Idealfall bestmöglichen Wahrheitskriterien. Wie bei der Fotografie gibt es dabei keine absolute Objektivität. Der Autor muss es ehrlich meinen, und der Betrachter muss sich darauf einlassen, Bild und Bildunterschrift sorgfältig zu prüfen. Nicht immer funktioniert dies. Die Geschichte der Reportage ist voll von Beispielen, bei denen Bilder ohne Mitwirken des Fotografen von der Nachrichtenredaktion mit Texten versehen wurden, die nicht einer sachgerechten Erläuterung dienen, sondern den Zielen eines Sensationsjournalismus folgen, dem es um Aufmerksamkeit und Auflage geht.

Begriffe wie Wahrhaftigkeit, Authentizität oder Ehrlichkeit mögen sich altmodisch anhören. Letztlich jedoch handelt es sich um notwendige Begleitkategorien eines aufgeklärten und aufklärerischen Wahrheitsbegriffs, der einen kommunikativen Verständigungswillen voraussetzt und in einer sozialen Welt ohne absolute Objektivität das Maximale dessen darstellt, was möglich ist. Gute Dokumentarfotografie und eine wahrhafte Sprache sind sich dessen bewusst. Ihnen geht es nicht um Meinungen und perspektivische Sichtweisen, sondern um die Darstellung und Vermittlung von Tatsachen, auch wenn diese nicht so einfach zu bekommen sind.

Das Streben nach Wahrhaftigkeit bleibt ein mühsames Geschäft. Insbesondere gilt dies bei der Begegnung mit anderen Kulturen.

Die Rollenverteilung und der Dresscode im klassischen Western der 50er Jahre sind schnell verstanden. Der weiße Hut war dem Helden vorbehalten, die übrigen Akteure teilten sich auf in böse Schwarzhüte, Hutlose mit indigenem Federschmuck und einige wenige Frauen im karierten Outfit. Dunkelhäutige Menschen mit afrikanischen Vorfahren spielten nur selten mit, schon gar nicht in tragenden Rollen. In späteren Westernfilmen änderte sich dies, eine Ablösung von den alten Klischees blieb aber die Ausnahme. Nur wenige Dinge sind mächtiger als die Vereinfachung. Die Unübersichtlichkeit der Welt wird mit einem polarisierenden Raster überzogen, und wie bei einer kontrastreichen Fotografie gibt es am Ende nur noch Weiß und Schwarz. Strenggenommen handelt es sich dabei nicht einmal um Farben, sondern um eine Lichtreflexion ohne Pigmenteinwirkung oder eine Fläche ohne Abstrahlung. Genau diese Farblosigkeit macht die Schwarz-Weiß-Metapher zu einem Wirklichkeitsfilter mit hoher Suggestivkraft. Die Zuspitzung fördert die Emotionalität des Betrachters stärker, als dies bei einer Differenzierung in feinziselierte Zwischentöne der Fall wäre. Kontrast bedeutet Drama. In der Fotografie werden Bilder mit einer Überbetonung der Grauwerte schnell als ein wenig langweilig empfunden.

Jede Polarisierung ist geeignet, die kognitiven Anteile der Hirntätigkeit zu reduzieren und dem Bauchgefühl Vorrang einzuräumen. So lassen sich Urteile schneller und ohne langes Nachdenken fällen. Das mag Vorteile haben, für die es einige in der Anthropologie des Menschen liegende Gründe gibt. Licht wird mit Wärme, Entspannung und Leben assoziiert, das tiefe Dunkel hingegen mit Kälte, Unheil und Tod. Das war es dann aber auch schon mit der Macht der Urhoffnungen und Urängste. Alle weiteren Konnotationen des Weißen und des Schwarzen sind Ergebnis kultureller Zuschreibungen. Schon ihre Gleichsetzung mit dem Guten und dem Bösen ist Begleiterscheinung und Ergebnis sozialer Stigmatisierungen. Dass es auch Umkehrungen gibt, ist unbestritten. So gilt Weiß im europäischen Kulturkreis zwar als das Reine, mitunter jedoch auch als ein wenig einfältig und naiv, dann wieder für das Übersinnliche, etwa für Gespenster, während Schwarz Eingang in das Bild asketischer Weltverachtung und priesterlicher Transzendenz gefunden hat. Darüber hinaus steht in der weltlichen Variante das schwarze Outfit als Kennzeichen für eine existenzialistische Weltsicht, als Berufsbekleidung von Galeristen und Architekten oder als Ausweis der Zugehörigkeit zu punkigen und anderen Gruppierungen, die mit der Verachtung des Bürgerlichen spielen.

Die Welt ist bevölkert von Menschen verschiedener Herkunft, teils mit eher dunklerer und teils mit hellerer Hautfarbe. Die Eigenschaften dunkel oder hell sind dabei relativ. Wirklich schwarz oder weiß ist niemand. Und dennoch hält sich die Dichotomie im westlichen Kulturkreis auf hartnäckige Weise. Die Polarisierung kommt der Reduktion auf ein unrealistisches Entweder-Oder gleich. Aber es gibt durchaus Gründe, die eine solche Vereinfachung rechtfertigen, denn die Mehrzahl der als schwarz kategorisierten Menschen lebt in einer anderen Alltagsrealität als sogenannte Weiße. Im Übrigen bildet die in neuerer Zeit vorgenommene Zusammenfassung aller Nichtweißen zur Gruppe der People of Color lediglich eine Abwandlung alter Stigmatisierungen. Hier die Weißen, dort alle übrigen. Auch das hat eine Vorgeschichte, denn der rassistische Diskurs hat sich über Jahrhunderte entwickelt. Kern des europäisch-westlichen Schwarzenbildes ist der weiße Nullpunkt, nach dem dieser den unhinterfragten mentalen Ort bezeichnet, der die Ausgangsnorm bildet. Der Maßstabsetzende betrachtet sich selbst als neutral und farblos, weiß eben, alle anderen als schwarz oder farbig und somit abweichend. Es ist keine gleichberechtigte Polarisierung. Die Zusammenfassung als People of Color bildet deshalb nichts anderes als eine neue Erscheinungsform solcher Stigmatisierungen.

Ein neutrales Bild zeigt sich hingegen in der künstlerischen Ästhetik. Die Schwarzweißgrafik ist durch eine Beschränkung auf Umrisse und Flächen gekennzeichnet. Differenzierungen innerhalb der schwarzen und weißen Bereiche finden nicht statt. Wertungen zwischen beiden auch nicht. Lediglich ihr räumliches Verhältnis bietet Stoff für sinnstiftende Botschaften, wobei die gestalttheoretische Unterscheidung in Figur und Grund eine zentrale Rolle spielt. Im Holzschnitt wird die figürliche Botschaft meist durch die schwarzen Flächen repräsentiert, Weiß bildet den Hintergrund. Prinzipiell lässt sich dies auch umkehren. Eine suggestive Höherschätzung, entweder der weißen oder der schwarzen Bildanteile, ist nicht der Fall. In der Fotografie gibt es diese Freiheit nicht.

Fotografieren als Teil des Mediengebrauchs lässt keine Lebensbereiche unberührt.

Fotos der Arbeitskollegen beim Betriebsausflug, das Portrait der Katze oder Selfies in jeglichen Lebenssituationen, nichts verbleibt in der Flüchtigkeit des Vergehenden. Alles wird gesammelt und häufig über die Kanäle sozialer Medien anderen mitgeteilt. Das Fotografieren und die Fotografie selbst sind Bestandteile einer Identitätskonstruktion, die sowohl an das eigene Ich gerichtet ist wie auch an die soziale Umgebung und deren Bild von uns. Die Angst vor dem Nichtwahrgenommenwerden ist dabei oftmals stärker als die Befürchtung, es könnten durch eine Fotografie eigene oder fremde Tabuschranken überschritten werden. Klassische Intimitätsregeln sind obsolet geworden, und es gibt nichts, das es in den medialen Netzwerken nicht gibt. Was Susan Sontag 1977 beim Erscheinen ihres Essaybandes Über Fotografie noch nicht voraussehen konnte, ist durch das Smartphone zum generationsspezifischen Phänomen geworden. Es hat nicht wirklich stattgefunden, was nicht auf dem Monitor, und sei er noch so klein, betrachtet werden kann. Mitunter ist das vorzeigbare Bild wichtiger als die Situation, in der es entstand. Damit ähnelt es Erscheinungsformen der klassischen touristischen Reisefotografie. Auch bei dieser entsteht nicht selten der Eindruck, dass der Stolz beim Vorführen der mitgebrachten Bildtrophäen einen größeren Gewinn mit sich bringt als das Erleben der Fremde, die man erleichtert hinter sich gelassen hat.

Reisen galt schon immer als eine ambivalente Angelegenheit. So ist das Erleben neuer Kulturen, aber auch das Entdecken des Fremden in sich selbst, zentraler Bestandteil des bildungsbürgerlichen Auftrags nach der Sinnsuche. Die Konfrontation mit dem Anderen erweitert den Horizont und relativiert die eigenen, kulturell gebundenen Sichtweisen. Man lernt Menschen kennen, schreibt ein reflektierendes Reisetagebuch oder geht auf fotografische Entdeckungstour. Hin und wieder kann man damit rechnen, einen Plan über Bord werfen zu müssen, weil etwas dazwischenkommt. Aber durch die Meisterung solcher Schwierigkeiten wächst das Vertrauen in die eigenen Kräfte. Unsicherheiten werden geringer. Wir erwandern eine neue Stadt, bis nach und nach eine innere Orientierungskarte entsteht. Schließlich sind wir ein wenig heimisch geworden und reflektieren den erfahrenen Wachstumsprozess als Ergebnis der Auseinandersetzung zwischen unserem Selbst und dem Fremden. Wie in Joseph Conrads Herz der Finsternis oder bei Odysseus kann die Fahrt als Metapher für eine Innenweltreise verstanden werden. Unterwegs kommt es zu einer Konfrontation mit Sehnsüchten, Begierden und Ängste.

Jenseits der Innenweltreise oder Sinnsuche gibt es die Abenteuerlust als Ausbruch aus der alltäglichen Zivilisation, der man überdrüssig geworden ist. Dies kann in die Wüste, den Dschungel oder in die Berge führen. Das Zielpaket ist bei Bedarf auch fix und fertig buchbar. Man findet dann das andere, sonst nicht gelebte Leben in der All-inclusive-Anlage mit Schutzzaun und grenzenlos freiem Konsum einer fiktiven Welt voller Cocktails und Buffets, gelegentlich auch der sexuellen Befriedigung. Der geografische Ort des Aufenthalts stellt sich als zweitrangig oder beliebig dar, nur warm soll es sein. Die Motive von Freiheit und Ausbruch stehen im Vordergrund, selbst wenn sich die Freiheit durch ein Bändchen am Armgelenk und der Ausbruch durch den Verzicht auf die Uhr manifestieren. Im Übrigen hat schon die heimische Planung des Abenteuers eine nicht zu unterschätzende Funktion für das seelische Gleichgewicht.

Hinter der Erfahrungssuche und dem kontrollierten Abenteuer schlummert Bedrohliches. Mehr oder weniger explizit wird die gefährliche, zweite Seite des Reisens erahnt. Das Reisefieber als Mischung aus Phantasie und Furcht bringt die Ambivalenz an die Oberfläche. Wenn der Aufbruch naht, steigen Ängste auf vor möglichen Unglücken und gefährlichen Vorfällen. Die Mitnahme der Kamera als schamanisches Zauberwerkzeug kann helfen, diese Dämonen zu bannen. Aber wie jedes Zaubermittel muss es überlegt angewandt werden, um unliebsame Nebenwirkungen zu vermeiden. Und die Begegnung mit einer fremden Kultur ist nun einmal eine Herausforderung. Mit zunehmender Distanz zur vertrauten Lebenswelt stellen sich grundsätzliche Fragen des Verstehens der Bräuche, Riten und Kommunikationsformen. Auch spielen die eigenen Vorurteile eine Rolle, mit denen man der Fremde und den Fremden begegnet. Eine klebrige Angelegenheit. Gibt es eine kulturelle Nähe zwischen dem eigenen Herkunftsland und dem Zielort, stellen sich Verstehensfragen meist zwar nicht in existenzieller Weise. Aber dennoch sind beim Fotografieren auch hier einige Herausforderungen zu meistern.

Unternehmen wir eine Reise in ferne Regionen, werden wir mit Situationen konfrontiert, für die keine erlernten Deutungsmuster zur Verfügung stehen.

Die Konstellation eröffnet Raum für Projektionen verschiedenster Art. Unbewusst Begehrtes gehört ebenso dazu wie Bedrohliches. Aus diesen können sich Zuschreibungen entwickeln. Wir erwarten dann von der fremden Welt, dass sie so ist, wie wir sie uns vorstellen. Ist dieser Schritt vollzogen, folgen Mechanismen der selektiven Wahrnehmung. Wir registrieren vorzugsweise solche Dinge, die den Zuschreibungen entsprechen. Unbedarftes Fotografieren wirkt dann wie eine Verstärkung, weil das Bild zum Beweis für die Richtigkeit des schon immer Gewussten wird. Es handelt sich um einen Prozess der Perpetuierung von Vorurteilen. Mit zunehmender räumlicher Entfernung steigt die Wirkung von Projektionsmechanismen an.

Die in lebensgefährlicher Fahrt aus Afrika über das Mittelmeer kommenden Menschen haben in Europa heftige Diskussionen ausgelöst, die zwischen Bedrohungsgefühlen, faktenfreiem Unwissen und hilflosem Mitleid changieren. Erstmals seit vielen Jahrzehnten drängt sich damit eine Neureflexion des etablierten Afrikabildes auf. Man muss dieses als diffus bezeichnen. Dafür gibt es spezifisch deutsche Gründe. Nach 1945 hatte sich eine lähmende Hilflosigkeit bei der Begegnung mit fremden Völkern ausgebreitet. Die Rassenideologie der Nazis zeigte Nachwirkungen und die kollektive Mentalität trug etwas Xenophobes in sich. Insbesondere in den 1950er und 60er Jahren war man darüber hinaus lediglich Zaungast, als sich benachbarte europäische Nationen als Folge der Unabhängigkeitsbewegungen der kolonisierten Völker mit der Differenz der eigenen Kultur zum Fremden auseinandersetzen mussten. Anders als in Frankreich, Belgien, Portugal oder Großbritannien gab es in Deutschland während der Zeit der weltweiten Dekolonialisierung keine Notwendigkeit, sich mit Migranten aus ehemaligen Herrschaftsgebieten zu befassen. Die deutsche Kolonialgeschichte war mit dem Ausgang des Ersten Weltkriegs bereits beendet. Menschen mit dunkler Hautfarbe bilden hierzulande bis heute, anders als in Marseille oder Birmingham, eine deutliche Minderheit.

Hinzu kommt, dass unser Afrikabild noch immer geprägt ist durch Rudimente der sogenannten Völkerkunde vergangener Jahrhunderte sowie die in den Museen gezeigten Sammlungen früherer Fürsten, Könige und Kaiser. Diese hatten alles mitnehmen lassen, was in der Fremde vorzufinden war. Neben dem Tauschhandel, bunte Glasperlen gegen Kulturobjekte, war das gewaltsame Ausplündern der besetzten Gebiete zur Vervollständigung der eigenen Höfe gang und gäbe. Später wurde diese Praxis mit der Begründung, es handele sich um wissenschaftliche Forschungsprojekte, systematisch fortgesetzt. Darüber hinaus drückte sich der Eurozentrismus der kolonialen Sicht in einer überheblichen Wahrnehmung der eigenen Stellung aus. Zivilisation ist, was europäisch ist. Erst in jüngerer Zeit beginnt Europa zu begreifen, dass es nicht der Nabel der Welt ist.

Beim Besuch eines Völkerkundemuseums wurde bis vor wenigen Jahren spürbar, dass keine neutrale Vermittlung des Lebens anderer Kulturen und deren Geschichte geboten wurde, sondern ein Bild davon, wie man sich seit den Zeiten der Entdeckungen und der Kolonialisierung die Fremde und die Fremden vorgestellt hatte. Museen waren Orte der Imagination eigener kollektiver Phantasien und Ängste. Die Projektionen wiesen entweder eine negative Konnotation auf, indem die eigene Kultur als Spitze der Entwicklung und das Fremde als rückständig dargestellt wurde, oder eine verhalten positive, wenn sich das Andere in Gestalt des Edlen Wilden als Ursprüngliches, sympathisch Irrationales und Phantastisches präsentierte, das der europäischen Zivilisation abhandengekommen war. Mit diesen Widersprüchen und Ambivalenzen hat sich hierzulande ein projektives Bild Afrikas entwickelt, das im Laufe der Zeit mehr und mehr für die Wirklichkeit genommen wurde.

Ein frühkoloniales Klischee des Edlen Wilden, das bis in die feinsten Formulierungen hinein den eurozentrischen Blick verrät, wurde von Daniel Defoe gezeichnet, der Robinson Crusoe eine Beschreibung seines Inselgefährten vornehmen ließ: Er war ein stattlicher, hübscher Kerl, wohlgebaut, kräftig von Gliedern, schlank und wohl proportionirt. (...) Seine Gesichtszüge waren männlich und ohne wilden Ausdruck. Besonders wenn er lächelte, hatte er die ganze Anmuth und Sanftmut eines gebildeten Europäers. (...) Seine Hautfarbe war nicht völlig schwarz, sondern braungelb, aber nicht von jener häßlichen gelben, widerlichen Farbe, wie man sie bei den brasilianischen, virginischen und anderen Eingeborenen von Amerika sieht, sondern von einer Art glänzenden Olivenbrauns, das einen angenehmen, aber schwer beschreiblichen Anblick gewährte. Heute hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass solche Beschreibungen mit rassistischen Konnotationen durchsetzt sind.

Das Bild des Edlen Wilden betonte neben physiognomischen Aspekten auch dessen Unterwerfungsgesten, die auf beruhigende Weise deutlich machten, dass eine Infragestellung der weißen Herrschaftsstellung nicht drohte. So nimmt es kaum Wunder, dass man vor der Hochzeit des Sklavenhandels, der die menschliche Arbeitskraft als reine Handelsware betrachtete, den vereinzelt in Europa anzutreffenden Afrikanern mit einem staunenden, von Exotik inspiriertem Interesse begegnete. Ob als Mohr bei Hofe, als Wappenfigur oder als vorgeführtes Prestigeobjekt, das Bild entsprach einer Mischung aus gezähmter Wildheit und damit Zivilisierung, gleichermaßen aber auch Kulturferne und gefährlich Naturhaftem. Diese mit einem wohligen Schauer wahrgenommene Ambivalenz wich mit der Ausbreitung des Sklavenhandels einer eindeutigen Abwertung. Nun galt der Fremde ganz überwiegend als unzivilisierter Barbar und im Übrigen als Heide, der zu missionieren war. Die Ambivalenzen waren zwar nicht völlig verschwunden, es dominierten aber trotz der hier und dort weiterhin vorhandenen Imagination des Edlen Wilden nun die Negativaspekte. Dazu gehört das Bild vom faulen Schwarzen, der klimabedingt keine besonderen Anstrengungen zum Überleben unternehmen müsse und dem ein Verständnis für die europäische Arbeitsdisziplin fremd sei. Die Unterstellung sexueller Triebhaftigkeit und einer latenten Aggressivität kamen hinzu. Schließlich führte der koloniale Darwinismus zum ungeschminkten Konzept der Herrenrasse. Das eigentliche Ziel jedoch lag in der Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Joseph Conrad lässt den Erzähler Marlow bei seiner Fahrt in Das Herz der Finsternis das Wesen der Dinge klar benennen: Die Eroberung der Erde (ein Wort, das meistens die Bedeutung hat, dass man Leuten, die ein andere Hautfarbe oder flachere Nasen als wir selbst haben, ihr Land wegnimmt), diese Eroberung ist nichts Allzuschönes, wenn man sie sich aus der Nähe betrachtet.

Postkoloniale Studien machen das Konstrukthafte der bis heute wirkmächtigen Begriffe und Vorstellungen deutlich. Diese sind alles andere als wertfrei, sondern historisch aufgeladen mit spezifischen Zuschreibungen. Diese spiegeln die Einstellungen und Perspektiven einer Gesellschaft wider, die sich ein projektives Bild Afrikas gemacht und dieses systematisch perpetuiert hat. Michel Foucault hat in der Archäologie des Wissens gezeigt, auf welche Weise Gesellschaften solche Wahrheiten produzieren. Niemand kann genau bestimmen, wer wann in welcher konkreten Situation an den Konstrukten gearbeitet hat. Es gibt keinen Urheber, es gibt auch keine Verschwörung finsterer Mächte. Gleichwohl erlangen die Stereotype den Charakter sozialer Tatsachen, die wie kollektive Archetypen in das gesellschaftliche und individuelle Bewusstsein eindringen. Die ständige Reproduktion der weißen Bilder wirkt auf diese Weise von der Zeit des Sklavenhandels über die kolonialen Denkmuster bis in die Gegenwart fort.

Eine explizit schwarze Perspektive auf der Funktion weißer Stereotype wurde von Leopold Senghor, Frantz Fanon oder Achille Mbembe eingenommen. Sie macht deutlich, dass die rassistischen Diskurse mit dem Prozess der Dekolonialisierung keineswegs abgeschlossen sind. Kern des europäisch-westlichen Schwarzenbildes ist weiterhin der unhinterfragte weiße Nullpunkt. Der Weiße konstruiert sein Selbstbewusstsein auf der Folie des Anderen. Die Folgen tragen am Ende beide. Der Diskurs hat Einfluss sowohl auf die Identitätskonstruktionen der Kolonisierten wie auf die der Kolonisatoren. Es genügt deshalb nicht, postkoloniale Studien nur aus der schwarzen Perspektive zu betreiben, um das Anmaßende der weißen Stereotype herauszuarbeiten. Vielmehr geht es darum zu begreifen, welche Bedeutung sie für das weiße Selbstverständnis haben. Wir müssen uns in Europa an die eigene Nase fassen, um diese Fragen zu beantworten.

Es ist alles andere als trivial, wie wir uns verhalten, wenn wir in Afrika mit der Kamera unterwegs sind.

In Ländern wie Namibia oder Südafrika zeigt sich auch nach der Kolonialzeit ein deutliches ökonomisches Machtgefälle zwischen Armen und Reichen. Der europäische Tourist wird zwangsläufig zur Upper Class gerechnet. Dies fordert ein reflektiertes Verhalten, auch mit der Kamera, zu dem es im Übrigen keine Alternative gibt, wenn man sich zum Erkennen weißer Stereotypenbildung vorgearbeitet hat. Denn sind die kollektiven europäischen Bilder mit ihren Ambivalenzen erst einmal bewusst, kann nur noch größte Ignoranz oder Arroganz, bestenfalls Naivität, dazu führen, dass man mit klassischer touristischer Unbefangenheit die Kamera auf alles richtet, was dem erwarteten exotischen Bild entspricht oder zumindest so aussieht. Sensible Gemüter verspüren diese Problematik instinktiv, wenn sie sich nach der Ankunft in der Fremde zunächst fotografisch zurückhalten, um erst nach einer Zeit der mentalen Akklimatisierung unbefangener zu werden und die Kamera auf unbekannte Dinge richten.

Während sich bestimmte Motive wie Landschaften und freilebende Tiere in der Regel losgelöst von kulturellen Vorurteilen betrachten und mit der Kamera einfangen lassen, wird es beim Fotografieren einheimischer Menschen diffiziler. Schnell ist man mit der Frage konfrontiert, ob nicht die Sehraster zur Eigenbestätigung führen und man am Ende nichts anderes als Klischees fotografiert. Darüber hinaus schlägt eine touristische Naivität schnell in Distanzlosigkeit, Aufdringlichkeit oder unkultivierte Anmaßung um, die das fremde Subjekt lediglich als fotografisch interessantes Objekt betrachtet. Reflektiertes touristisches Verhalten muss trotzdem nicht in eine übervorsichtige Selbstbeschränkung führen.

Wenn in einem österreichischen Museumsdorf von den dort Beschäftigten in traditioneller Bauernkleidung das Handwerk und das Leben früherer Jahrhunderte nachgestellt wird, so erscheint uns das völlig normal und wir fotografieren ohne Befürchtung eines unangemessenen Voyeurismus. Warum nicht in Afrika in gleicher Weise den für Touristen gedachten Vorführungen von Stammestänzen und traditionellen Riten folgen? Müssen wir uns hypersensibel abwenden, weil es sich ja nur um eine gemachte Show handelt? Dies wäre eine falsche Scham. Man darf davon ausgehen, dass sich die Darsteller des Rollenhaften der Aufführung bewusst sind und im Übrigen Teile ihres Lebensunterhaltes damit bestreiten. Wenn die nur spärlich bekleidete Führerin im Museumsdorf im Nordwesten Namibias zum Ausdruck bringt, dass man alles fotografiere darf, und darüber hinaus erklärt, dass die Akteure in zwei Welten leben, in der Stadt und hier, dann definiert sie die Situation souverän als Rollenspiel.

Ein anderer Kontinent. Aber die Herausforderung bleibt.

New York, eine Metropole voller Szenen und Motive, die zum Fotografieren einladen, auch wenn sie bereits in hunderttausenden von Bildern festgehalten wurden und nahezu jedem bekannt sind. Wolkenkratzer, Yellow Cabs, bunte Lichter am Broadway, Empire State Building, Brooklyn Bridge, vorzugsweise by night mit Blick auf die Lichter Manhattans, Liberty Statue und Guggenheim oder Museum of Modern Art. Selbst die optimalen Aufnahmestandpunkte sind bekannt. Trotz des Wissens, dass der eigene touristische Blick identisch ist mit den Blicken vieler anderer, wird fotografiert, als sähen wir als Einzige etwas Besonders. Die Ergebnisse sind in vielen Fällen ernüchternd, und bei der Betrachtung auf dem heimischen Monitor strahlen die Bilder oftmals eine gewisse unambitionierte Normalität aus. Alles wirkt ein wenig belanglos oder gar langweilig und Yellow Cabs sind jetzt nur noch gelbe Autos. Zudem fällt plötzlich auf, dass lediglich einige von ihnen das aus Filmen bekannte Straßenkreuzerformat aufweisen und meist aus vernünftiger asiatischer Produktion stammen. Auch die nächtlichen Fotos der Brooklyn Bridge vor dem Lichtermeer Manhattans waren zwar schon immer ein wenig kitschig, aber die eigenen Aufnahmen bei Tageslicht eröffnen erst recht nur selten neue Sichtweisen. Vergleichbares gilt für die Wolkenkratzer und die anderen touristischen Zentralmotive. Alles bekannt und bereits von anderen in Perfektion abgebildet. Wir beginnen zu ahnen, dass unsere Fotografien Nachahmungen sind. Die auf die Reise mitgenommenen Erwartungen haben uns eine Falle gestellt. Durch das bekannte Set klassischer New York Bilder haben wir schon vor der Reise eine Vorstellung entwickelt, die wie ein Filter vorzugsweise solche Dinge in den Blick gelassen hat, auf die wir bereits vorbereitet waren. Unbewusst wurde genau das gesehen, was den Erwartungen entsprach, und das fotografiert, was wahrgenommen wurde, also die Yellow Cabs und die übrigen Postkartenmotive. Wir haben unsere Vorurteile bestätigt.

Indem Bekanntes gesucht, entdeckt und festgehalten wird, fördert das Fotografieren auf Reisen die Schaffung von Sicherheit. Man sieht Erwartetes oder Vertrautes und blendet fremdartige Aspekte aus. Die Reizüberflutung wird kanalisiert, indem durch selektive Wahrnehmung die Komplexität auf vorhandene Schemata reduziert wird. So zeugen gleiche Verkehrsschilder und Automodelle, gleiche Warenangebote im Supermarkt und gleiche Motive auf den Werbeplakaten in beruhigender Weise von der Welt als einem Dorf, in dem wir uns ohne Verwirrung zurechtfinden. Internationale Hotelketten berücksichtigen dieses Sicherheitsbedürfnis und sorgen dafür, dass in Sydney, Toronto und Düsseldorf die Zimmerausstattung, die Beschilderung und die Organisation nahezu identisch sind. Gleiches gilt für Flughäfen. Überall ähnliche Abläufe und Informationstafeln. In welcher Stadt sind wir heute? Egal, wir wissen, wo es langgeht. Fotografieren an fernen Orten folgt nicht selten dieser Logik des Vertrauten. Die geläufigen touristischen Motive dienen dem Wiedererkennen und der Orientierung. Wer dem Heldendenkmal aus dem Reiseführer gegenübersteht, weiß genau, wo er sich befindet, und braucht keine Furcht vor dem Verlust der Koordinaten zu haben.

Susan Sontag hat die Funktion des Fotografierens beim Reisen analysiert und beschreibt neben der Schaffung von Sicherheit weitere Aspekte. So kann die Aneignung der fremden Umwelt durch Beschränkung auf ausgewählte Motive auch als Verweigerung von Erfahrung interpretiert werden. Man konzentriert sich auf die Suche nach fotogenen Szenen und blendet das Übrige aus. Das Sammeln von touristischen Souvenirs steht im Vordergrund. Die Erfahrung bleibt oberflächlich, aber das Fotografieren fördert zumindest den Eindruck einer interessierten Teilnahme. Der Fotoapparat dient als Schutzschild, dessen Gebrauch geradezu inszeniert wird. Der polyglotte Weltbürger erweckt durch den coolen Einsatz seiner profihaften Ausrüstung den Anschein, er sei überall zu Hause und stets Herr der Lage. Bei der Betrachtung der Bilder nach der Rückkehr in die Heimat ist von der Anstrengung dieses Schauspiels nicht viel zu spüren. Aber der Beweis ist erbracht, dass man in der Ferne gewesen ist. Von den Unsicherheiten während der Reise und den Eigeninszenierungen beim Gebrauch der Kamera zeigen die Bilder nichts.

Es darf vermutet werden, dass sich dieser Mechanismus bei häufigem Reisen oder wiederholten Besuchen des gleichen Ziels abschwächt. Solange eine Umgebung neu ist, stehen Orientierungsaspekte im Vordergrund. Wird man mehr und mehr mit den Dingen vertraut, richtet sich der Blick entspannter auf Neues und auf überraschende Perspektiven. Sicherheit durch Gewöhnung entfaltet eine befreiende Wirkung, insbesondere wenn man sie nicht mehr um jeden Preis benötigt. Spätestens beim dritten New York Besuch registriert man die positiven Seiten dieses Effektes und fotografiert anders.

Einige Vielgereiste kennen alle Gegenden dieser Welt, erwecken jedoch den Eindruck, als seien sie vom Fremden in keiner Weise berührt. Andere hingegen haben nur wenig gesehen, aber diese neuen Eindrücke waren ausreichend, um starke innere Prozesse auszulösen. Die Offenheit für Fremdes, so der Philosoph Alain de Botton, steigt mit der bewussten Reflexion, was man wirklich kennenlernen möchte, deutlich an. Das Wissen um die eigenen Bedürfnisse ist dabei wichtiger als die Orientierung an den jeweils aktuellen Trends, wohin man reisen und was man dabei sehen sollte. Das gilt auch für den Bildungsreisenden, der Gefahr läuft, zwanghaft die vom Ratgeber gelisteten Sehenswürdigkeiten aufzusuchen, weil man dort einfach gewesen sein muss.

Aufgrund der Medienbilder dieser Welt und eines meist oberflächlichen Wissens über fremde Länder wird die unvoreingenommene Reise immer unwahrscheinlicher. Um dem entgegen zu treten, sucht der Interessierte die kritische Reflexion der eigenen Vorabbilder. Diese können durch neue Eindrücke vielleicht nicht infrage gestellt, aber doch zumindest ergänzt und relativiert werden. In besonderer Weise gilt die Wirkung von Vorurteilen beim Besuch der Urlaubshotspots dieser Welt, die bei genauerer Betrachtung auch ihre andere Seite zeigen. Die dort heimischen Menschen erleben das Paradies oftmals als Region mit härteren Alltagsproblemen als im Land des zugereisten Touristen. Wer nach ausgiebigem Frühstücksbuffet im Hotel zum nahegelegenen Strand der exotischen Ferieninsel schlendert, vorbei an freundlichen Menschen mit allerlei Kunsthandwerklichem, der bekommt davon allerdings so gut wie nichts mit.

Reiseratgeber tragen zur Bildung von Vorurteilen bei, indem textlich und bildlich die Betonung der touristisch markierten Punkte im Vordergrund steht und die Schattenrealitäten bestenfalls in einigen allgemeinen Informationen zum Land untergebracht sind. Gänzlich ohne Vorbereitung durch Reiseführer geht es aber auch nicht, weil sich sonst keine Vorstellung entwickelt, welche neuen Erfahrungsmöglichkeiten es geben könnte. Dies korrespondiert mit einem gesunden Maß an Aufregung, die zwar gesucht wird, aber nicht zu stark sein soll. Die Psyche fördert nun einmal die Sehnsucht nach dem Gegensätzlichen, aber gerade noch Integrierbaren.

Fotografieren als Instrument zum reflektierten Umgang mit dem Unbekanntem.

Wird bewusst fotografiert, eröffnet sich eine Chance zur offenen Begegnung mit der Realität. Aber auch dann findet eine Reduktion von Komplexität statt. Aus der Menge neu einstürzender Eindrücke und Informationen wird ein Teil herausgefiltert und besonderer Beachtung unterzogen. Dabei werden nicht nur bekannte Touristenmotive entdeckt, sondern auch Überraschendes. Die zunächst verwirrende Unübersichtlichkeit ordnet sich. Man erschließt sich Unbekanntes, indem man es überhaupt erst einmal als solches wahrnimmt, anstatt es zu übersehen oder zu verdrängen. Dann beginnt der Versuch, es fotografisch zu erfassen.

Die umgangssprachliche Begrifflichkeit, sich ein Bild von etwas zu machen, beschreibt diesen Vorgang recht genau. Es ist ein Unterschied, ob der Auslöser der Kamera reflexartig betätigt wird, um irgendetwas festzuhalten und dieses dann als exotische Trophäe nach Hause zu bringen, oder ob man sich der Mühe unterzieht, dieses Irgendetwas auch zu begreifen. Das erst nach dem zweiten Blick gemachte Bild wird sich deshalb meist vom spontan entstandenen unterscheiden. Jede ambitionierte Fotografie setzt genau an dieser Differenz an. To make a picture ist etwas anderes als to take a picture. Dies gilt auf Reisen in Afrika genauso wie in New York. Es empfiehlt sich deshalb, in der Fremde nicht grundlegend anders zu fotografieren als in der heimischen Umgebung. Wird das eingeübte Sehen und Gestalten zur Basis der Reisefotografie, so kann dies vor den Folgen einer allzu spontanen Sammelleidenschaft schützen. Wer sich weniger auf die Yellow Cabs der Region oder exotische Klischees konzentriert, betritt den Weg zu einem reflektierten Fotografieren.

Ein gelbes Auto an sich ist in der Regel kein besonders originelles Hauptmotiv. Bei einer interessanten Fotografie kommen andere Dinge hinzu. Dafür gelten in New York die gleichen Gestaltungsregeln wie in Berlin oder in Afrika. Dies bedeutet nicht, dass diese Regeln einen universellen, kulturunabhängigen Charakter aufweisen. Es mag durchaus sein, dass der Blick eines afrikanischen Fotografen ein anderer ist. Dies alles verweist auf das Wesen der Fotografie, Ergebnis eines kulturellen Konstruktionsprozesses zu sein und nicht nur die fixe Widerspiegelung einer vermeintlich objektiven Wirklichkeit. Stets geht es um den Standpunkt, den man einnimmt. Mit Hilfe der Fotografie lassen sich Vorurteile sowohl bestätigen wie auch dekonstruieren. Sie fordert uns auf, das Perspektivhafte des eigenen Blickes im Auge zu behalten und die Kulturgebundenheit jeder Weltsicht zu berücksichtigen.