Eine Anleitung zum Sehen

Im Jahr 2009 erschien in deutscher Übersetzung das Buch Unrast der späteren Nobelpreisträgerin für Literatur, Olga Tokarczuk. Als bequemen Roman mit eingängigem Handlungsstrang lässt es sich nicht lesen, eher als eine Montage verschiedener Genres. Mal sind es Reiseberichte der polnischen Autorin, mal Kurzgeschichten und Tagebuchnotizen. Oder Reflexionen zur Zeitgeschichte beziehungsweise Themen der Philosophie. Und immer wieder Überlegungen zur Reisepsychologie. Alles ist in Bewegung.

Unrast fügt Fragmente des Lebens an unterschiedlichen Orten und aus unterschiedlichen Zeiten zusammen. Beschrieben wird damit, in der Gesamtschau, nichts anderes als das Leben an sich. Tokarczuk serviert jedoch nichts Fertiges. Stets ist die Eigenleistung des Lesers gefordert. Das Buch zeichnet sich durch den Verzicht auf eine eindeutige, Rahmen setzende Zentralperspektive aus. Ähnlich hat dies vor Jahren Iris Radisch in einer Rezension der ZEIT angemerkt. Dezentrierung und Fragmentierung stellen sich als Ausdruck eines nomadischen Denkens dar. Alles bleibt im Fluss. Eine Botschaft beziehungsweise der Sinn des Buches kann deshalb nicht auf der Oberfläche der Erscheinungen, sondern nur zwischen den zusammenhanglos erscheinenden Textelementen gefunden werden. Aber selbst dann muss offenbleiben, ob es sich bei dem so Entdeckten um die Intentionen der Autorin oder um das Ergebnis der Konstruktionsleistung des Lesers handelt. Postmoderne Literatur? Oder vielleicht eine Anleitung zum Sehen? Einer der Abschnitte des Buches trägt immerhin den Titel Sehen ist Wissen.

Nun zur Fotografie. In einem der ersten Kapitel des Buches, Kunicki. Wasser I, erzählt Tokarczuk von einem Mann, dessen Ehefrau mit dem gemeinsamen Kind während des Urlaubs bei einer Autofahrt auf einer Adriainsel an einer Raststelle verschwindet. Denkt er zunächst noch an ein Umherirren im Dickicht der Vegetation, muss der Mann diesen Gedanken bald aufgeben. Die Vermissten tauchen nicht wieder auf. Auch die Suche der Polizei ist erfolglos. Im Buch folgen zwei kleinere Zwischentexte, die vordergründig nichts mit der Geschichte zu tun haben, anschließend dann der Abschnitt Kunicki. Wasser II.

Die Lage bleibt unverändert. Das Warten im Hotel ist vergeblich. Frau und Kind sind verschwunden. Tage später holt der Mann den Koffer und die Handtasche seiner Ehefrau aus dem Auto und breitet den Inhalt vorsichtig auf dem Tisch aus. Jeder Gegenstand wird in die Hand genommen und in gleichen Abständen zum nächsten angeordnet: Schminkutensilien, der Reisepass, ein Notizbuch, das Mobiltelefon, Papiertaschentücher, das Portemonnaie, einige weitere Dinge. Auch eine Digitalkamera findet er. Mit dieser fotografiert der Mann jeden einzelnen der Gegenstände, ebenso die Kleidungsstücke aus dem Koffer. Und er bedauert, sich nicht auch selbst aufnehmen zu können, da er schließlich ebenfalls ein Beweisstück in diesem Fall sei. Das Kapitel endet ohne grundlegende Veränderung der Lage. Erst mehr als dreihundert Seiten später, nach Texten mit vollkommen anderen Inhalten, wird der Erzählfaden in Kunicki. Erde wieder aufgenommen.

Viel Zeit ist vergangen, die Szene spielt nun in der Heimat. Der Mann schläft schlecht, wird von Albträumen geplagt, obwohl Frau und Kind inzwischen aufgetaucht sind. Wie es dazu kam, erfahren wir nicht. Was bleibt, ist eine unüberbrückbare Entfremdung zwischen ihm und seiner Ehefrau. Deren Erklärungen für das mehrtägige Verschwinden auf der Insel schenkt er keinen Glauben, und die eigenen Versuche zu einer rationalen Rekonstruktion des Geschehens scheitern. Ja, sicher, es hatte da auf der Hinreise an der Grenze einen Streit gegeben. Konnte das eine Erklärung sein? Weiter zurück in die Vergangenheit will er nicht gehen. Eine Ursache für die ausgelöste Wirkung, das Verschwinden der[nbsp]Frau, ist für ihn nicht greifbar.

Eines Tages dann nimmt er die Fotografien zur Hand, die er auf der Insel von den Dingen seiner Frau gemacht hat, und legt sie sorgfältig wie eine Patience in Reihen nebeneinander. Plötzlich spürte er, dass es verschiedene Sichtweisen gibt. Die Dinge lassen sich auf der einen Seite getrennt voneinander betrachten. Jedes Objekt hat dann für sich genommen eine Funktion, einen Nutzen. Aber es lässt sich eben auch eine Panoramasicht einnehmen, eine umfassende Sichtweise, bei der man die Zusammenhänge zwischen den Gegenständen erblickt. Deren singulärer Nutzen bildet jetzt lediglich den oberflächlichen Schein. In der Gesamtschau jedoch werden die gleichen Bilder zu Zeichen, die auf etwas hindeuten, was die einzelne Fotografie nicht zeigt. Sie verweisen auf den Raum jenseits des Bildrahmens. Dies mag erhellend, aber auch mysteriös, vielleicht sogar wahnsinnig wirken. Tokarczuk lässt den Leser ahnen, dass eine Unterscheidung nicht immer leichtfällt. Was bleibt, ist die Unrast. Das Leben als Suche?

Der Fortgang der Handlung, dies hier zum Abschluss, fordert, wie das gesamte Buch, noch einmal Interpretationsleistungen. Und genau darum geht es: Zusammenhänge entdecken, Kontexte entschlüsseln, Sinn konstruieren, dabei Unerklärliches und Bedeutungsverschiebungen zulassen. Auch Geister können vorkommen. Dies alles ist auf das Betrachten von Fotografien übertragbar. Tokarczuks Buch lässt sich deshalb als Anleitung zum Sehenlernen lesen. Sehen hinter der Oberfläche.

Die kursiv gesetzten Textelemente sind der 2019 im Kampa Verlag, Zürich, erschienenen Ausgabe von Unrast entnommen. Demnächst erscheint im gleichen Verlag auch eine Taschenbuchausgabe.

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Interview: Ein neuer Blick auf die Fotografie?